19. Mai
Lesung 5-6 Aus dem Buch des hl. Papstes Gregor über Sittenfragen
Des Gerechten Einfalt wird verlacht. Die Weisheit dieser Welt besteht
darin, daß man sein Inneres mit Absicht verhüllt, hinter schönen Worten
seine wahre Gesinnung verbirgt, das Falsche als wahr, das Wahre als
falsch hinstellt. Diese Kunst lernt die Jugend schon durch stete Übung;
den Kindern wird sie gelehrt um Entgelt; wer sie beherrscht, ist stolz
darauf und verachtet die andern; wer sie nicht kennt, staunt untertänig
und furchtsam andere deswegen an. Diese schlimme Doppelzüngigkeit ist
bei ihnen beliebt; sie geben ihr einen schönen Namen und nennen sie
Bildung. Sie legt ihren Verehrern auf, nach den höchsten Ehrenstellen zu
streben, an eitlem, zeitlichem Ruhm, sobald sie ihn erlangt, sich zu
freuen, die von anderen erlittenen Unbilden tausendfach wieder
heimzuzahlen, so weit die Kraft reicht, keinem Widerstande zu weichen,
und wenn die Kraft fehlt, durch erheucheltes Wohlwollen das anzustreben,
was man durch Bosheit nicht erreichen kann. Dagegen besteht die Weisheit der Gerechten darin, nichts zum Schein
zu tun, seine wahre Gesinnung offen zu zeigen, die Wahrheit, wie sie
ist, zu lieben, alle Falschheit zu meiden, ohne Hoffnung auf Belohnung
Gutes zu tun, lieber Unrecht zu leiden als zu tun, keine Unbill zu
rächen und es als Gewinn zu betrachten, wenn man für die Wahrheit
Schmach dulden darf. Diese Einfalt der Gerechten wird verlacht. Bei den
Weisen dieser Welt gilt echte Tugend eben als Torheit. Alles, was man
ohne Sünde tun kann, halten sie für töricht; jede Handlung, die die
Wahrheit billigt, erscheint der menschlichen Weisheit als verkehrt. Denn
was scheint der Welt törichter, als seine innere Gesinnung offen zu
zeigen, nichts mit listiger Überlegung zu heucheln, keine Beleidigung
mit neuem Unrecht zu vergelten, für die Verleumder sogar zu beten, die
Armut zu suchen, seinen Besitz herzugeben, dem Räuber keinen Widerstand
zu leisten, dem, der einen schlägt, auch noch die andere Wange
darzureichen?
(aus dem Deutschen Brevier übersetzt von Dr. Johann Schenk 1937)
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