vom 8. September 1907 über die Lehren der Modernisten
An die Patriarchen, Primaten, Erzbischöfe,
Bischöfe und anderen Ortsordinarien, die Frieden und Gemeinschaft mit
dem Apostolischen Stuhl haben.
Ehrwürdige Brüder! Heilsgruß und Apostolischen Segen!
1. Die Herde des Herrn zu weiden ist das Uns
durch Gott übertragene Amt, welches von Christus vor allem die Aufgabe
zugewiesen erhalten hat, den Schatz des überlieferten heiligen Glaubens
auf sorgfältigste Weise zu hüten und profane Neuerungen und Einwendungen
der sogenannten Wissenschaft zurückzuweisen. Zu aller Zeit war diese
Sorge des Obersten Hirten für das katholische Volk ein notwendiges
Anliegen, denn dem Feind des Menschengeschlechtes hat es niemals an
Leuten gefehlt, die Verkehrtes reden 1, die mit ihren nichtigen Reden zu Verführern werden 2, oder an betrogenen Betrügern3.
Man kann es nicht leugnen, daß in der letzten Zeit die Zahl der Feinde
des Kreuzes Christi um eine große Anzahl gewachsen ist. Mit neuen,
hinterlistigen Taten versuchen sie die Lebenskraft der Kirche zu brechen
und, wenn es ihnen möglich ist, das Reich Christi selbst von Grund auf
zu zerstören. Deshalb dürfen Wir nicht länger schweigen, um Unserer
heiligsten Aufgabe nicht die Treue zu brechen und um die Milde, welche
Wir bisher in der Hoffnung walten ließen, daß man sich eines Besseren
besinnen würde, Uns nicht als Pflichtvergessenheit anlasten zu lassen.
2. Wir sind nun gezwungen, Unser Zögern nicht weiter auszudehnen, da
die Verfechter dieser Irrtümer bereits nicht mehr nur ausschließlich
unter den öffentlichen Feinden zu finden sind. Zu Unserem größten
Schmerz und Unserer höchsten Beschämung müssen wir die Worte gebrauchen:
Sie lauern bereits im Inneren der Kirche selbst, wörtlich gesprochen,
am Busen und im Schoße der Kirche. Sie sind um so gefährlicher, je
weniger sie bekannt sind. Ehrwürdige Brüder, Wir sind der Meinung, daß
sich viele aus der katholischen Welt der Laien und – noch viel schlimmer
– sogar aus den Reihen des Klerus, die sich unter dem Deckmantel der
Liebe zur Kirche verstecken, ohne Grundlage einer soliden Philosophie
und Theologie, vergiftet durch falsche Lehren, die sie aus dem Munde der
Feinde zu hören bekamen, und jede Bescheidenheit beiseite rückend als
Reformatoren der Kirche aufspielen. Kühn versammeln sie sich in ihren
Reihen, greifen das Heiligste des Werkes Christi an und verschonen dabei
nicht einmal die göttliche Person des Erlösers selbst, den sie mit
blasphemischer Frechheit zu einem armseligen Menschen herabwürdigen.
3. Diese Leute mögen sich wundern, wenn Wir sie zu den Feinden der
Kirche zählen.
Über das Innerste ihres Herzens wird nur Gott alleine
richten. Wem jedoch ihre Lehren, ihre Redewendungen und ihre
Handlungsweisen bekannt sind, der kann sich darüber nicht wundern. Es
entspricht absolut der Wahrheit, daß sie schlimmer sind als alle anderen
Feinde der Kirche. Wie bereits erwähnt, schmieden sie ihre Pläne, die
Kirche ins Verderben zu stürzen, nicht nur außerhalb, sondern auch im
Inneren der Kirche. Im Blute der Kirche, in ihrem tiefsten Inneren, hat
sich diese Gefahr festgesetzt. Deshalb wird ein Schaden für die Kirche
um so sicherer, je genauer sie die Kirche kennen. Dazu kommt noch, daß
sie nicht nur an die Äste und Zweige, sondern tief an die Wurzel ihre
Hand legen: an den Glauben und an die tiefsten Fasern des Glaubens. Ist
aber diese Wurzel des Lebens einmal getroffen, dann werden sie das Gift
in dem ganzen Baum verbreiten. An der katholischen Wahrheit werden sie
kein Stück unberührt oder unverdreht lassen. Sie kennen viele tausend
Arten, um Schaden anzurichten.
Dabei verhalten sie sich äußerst gewandt und schlau. Abwechselnd
spielen sie die Rolle des Rationalisten und des Katholiken in einer
derart gewandten Weise, daß sie jeden harmlos Denkenden mit Leichtigkeit
zu ihrem Irrtum bekehren können. Auch läßt ihre Verwegenheit sie vor
keinen Konsequenzen zurückschrecken. Mit frecher Stirn und kaltem Blut
drängen sie sogar dazu. Dazu kommt noch ihr äußerst tätiges Leben, ihre
ständige, eifrige Beschäftigung mit gelehrten Arbeiten aller Art und oft
eine zur Schau getragene Sittenstrenge. Dies alles trägt um so leichter
dazu bei, sich in ihnen zu täuschen. Mit ihren Fachstudien sind sie
schließlich an einem Punkt angekommen, an dem sie keine Autorität mehr
anerkennen und sich keine Beschäftigungen mehr gefallen lassen wollen.
Auf diese Weise haben sie ihr eigenes Gewissen getäuscht und möchten das
Wahrheitsdrang nennen. In Wirklichkeit handelt es sich dabei nur um
Stolz und Hartnäckigkeit. Man sollte dabei fast an jedem Heilmittel
zweifeln.
Wir hatten gehofft, daß Wir diese Männer doch noch zur Besinnung
bringen könnten. So haben Wir sie zuerst mit väterlicher Milde
behandelt, dann mit Strenge; schließlich sahen Wir Uns gezwungen,
öffentlich gegen sie einzuschreiten. Euch ist bekannt, ehrwürdige
Brüder, daß alle Mühen vergeblich waren. Kaum hatten sie für einen
Augenblick den Nacken gebeugt, erhoben sie ihn erneut mit noch größerer
Kühnheit. Wenn es sich nur um sie handeln würde, könnte man dies
vielleicht durchgehen lassen. Da jedoch der katholische Glaube selbst
gefährdet ist, wäre es eine große Sünde, wenn wir noch länger Schweigen
würden. Wir müssen reden und ihnen vor der gesamten Kirche die Maske vom
Gesicht reißen, die doch ihr wahres Wesen nur halb verhüllt.
4. Die Modernisten – so werden sie im allgemeinen sehr richtig
bezeichnet – gebrauchen den schlauen Kunstgriff, ihre Lehren nicht
systematisch und einheitlich, sondern stets nur vereinzelt und ohne
Zusammenhang vorzutragen. Dadurch erwecken sie den Anschein des Suchens
und Tastens, während sie davon fest und entschieden überzeugt sind.
Deshalb ist es gut, ehrwürdige Brüder, diese Lehren zunächst im
Überblick darzustellen, um aufzuzeigen, in welchem Zusammenhang sie
stehen. Erst danach ist es angebracht, nach dem Grund des Übels zu
suchen und die Mittel vorzuschreiben, durch welche das Unheil abgewendet
werden kann.
5. Um aber in dieser schwierigen Frage schrittweise vorzugehen,
merken Wir an dieser Stelle zunächst an, daß jeder Modernist sozusagen
mehrere Rollen in einer Person spielt. Er ist Philosoph, Gläubiger,
Theologe, Historiker, Kritiker, Apologet und Reformator. Diese Rollen
müssen gut unterschieden werden, wenn man das System richtig verstehen
und die Prämissen und Konsequenzen ihrer Lehren durchschauen will.
6. Beginnen wir zunächst mit der Philosophie. Das Fundament der
Religionsphilosophie setzen die Modernisten in jene Lehre, die man
gemeinhin Agnostizismus nennt. Ihr zufolge ist der menschliche Verstand
gänzlich eingeschlossen von den Phänomenen, das
heißt: von den Dingen, die in Erscheinung treten, und von derjenigen
Gestalt, in welcher sie in Erscheinung treten; deren Grenzen zu
überschreiten, habe er weder Recht noch Macht. Darum sei er auch nicht
imstande, sich zu Gott erheben, noch dessen Existenz – auf welche Weise
auch immer – aus den sichtbaren Dingen zu erkennen. Von hieraus wird
argumentiert, daß Gott in keiner Weise unmittelbar Gegenstand der
Wissenschaft sein könne; was aber die Geschichte betreffe, so sei Gott
keinesfalls als geschichtliches Subjekt zu betrachten. – Dies
vorausgesetzt, wird jedermann leicht durchschauen, was dann aus der natürlichen Theologie, was aus den Beweggründen für die Glaubwürdigkeit, was aus der äußeren Offenbarung
werden muß. All das nämlich fegen die Modernisten vollständig hinweg
und verbannen es zum Intellektualismus, den sie ein lächerliches, vor
langer Zeit untergegangenes System nennen. Sie stören sich auch nicht
daran, daß die Kirche solche Ungeheuerlichkeiten klar und eindeutig
verurteilt hat.
Das Vatikanische Konzil bestimmte: Wenn jemand behauptet, der eine
wahre Gott, unser Schöpfer und Herr, könne aus den Geschöpfen durch das
Licht der menschlichen Vernunft nicht mit Sicherheit erkannt werden, so
sei er im Banne4.
Ferner: Wenn jemand behauptet, es sei nicht möglich oder nicht gut, daß
der Mensch durch göttliche Offenbarung über Gott und den ihm schuldigen
Kult belehrt wird, so sei er im Banne5.
Schließlich: Wenn jemand behauptet, die göttliche Offenbarung könne
nicht durch äußere Zeichen beglaubigt werden, so daß man deshalb nur
durch die eigene Erfahrung oder durch eine besondere Erleuchtung zum
Glauben bestimmt werden kann, der sei im Banne6.
Wie nun ein Modernist vom rein negativen Agnostizismus zum
wissenschaftlichen und historischen Atheismus gelangt, also zu einer
positiven Leugnung, und nicht weiß, ob Gott in die Weltgeschichte
eingegriffen hat oder nicht, und mit welchem Recht er nun die
Schlußfolgerung ziehen darf, die Geschichte so erklären zu müssen, als
ob Gott tatsächlich nicht eingegriffen habe, ist schwer verständlich.
Trotzdem steht es für die Modernisten durchaus fest, daß die
Wissenschaft und die Geschichte keinen Gott kennen dürfen. In ihrem
Bereich gibt es nur Phänomene, die für Gott und göttliche Dinge absolut
keinen Platz haben. Daraus wird man bald eindeutig erkennen, was diese
bodenlose Doktrin aus der heiligsten Person Christi, aus den
Geheimnissen Seines Lebens, Seines Leidens sowie aus Seiner Auferstehung
und Seiner Himmelfahrt macht.
7. Der Agnostizismus bildet jedoch nur den negativen Teil der
modernistischen Lehre. Der positive Teil wird vitale Immanenz genannt.
Der Übergang von einem zum anderen Teil besteht darin, daß sowohl die
natürliche als auch die übernatürliche Religion, wie jede andere
Tatsache auch, einer Erklärung bedarf. Nachdem man jedoch die natürliche
Theologie beseitigt, durch Leugnung der Beweggründe des Glaubens zur
Offenbarung den Weg versperrt und selbst jede äußere Offenbarung zu
einer Unmöglichkeit gemacht hat, sucht man außerhalb des Menschen
vergeblich nach einer Erklärung. Sie muß sich also im Menschen selbst
finden. Da die Religion eine Lebensäußerung ist, kann die Erklärung nur
im Leben des Menschen liegen. Daher kommt das Prinzip der religiösen
Immanenz. Für jedes Lebensphänomen, zu dem nach dem Gesagten auch die
Religion zählt, liegt der letzte Grund in einem gewissen Bedürfnis oder
Antrieb. Nehmen wir jedoch das Leben im engeren Sinne, dann ist der
Beginn eine Bewegung des Herzens, das Gefühl. Gott ist der Gegenstand
der Religion. Daher ergibt sich die Schlußfolgerung, daß der Glaube, der
den Beginn und die Grundlage einer jeden Religion darstellt, aus einem
tiefen, innerlichen Gefühl bestehe, welches im Bedürfnis nach dem
Göttlichen seinen Ursprung finde. Dieses Bedürfnis nach dem Göttlichen
könne jedoch eigentlich nicht in den Bereich des Bewußten gehören, da es
sich nur unter besonders günstigen Bedingungen rege. Vielmehr verbleibe
es zunächst unterhalb des Bewußtseins. Der aus der modernen Philosophie
hierfür ausgeliehene Ausdruck lautet: im Unterbewußtsein. Dort verberge
sich auch seine Wurzel, die wir nicht fassen können.
Sollte jemand fragen, wie dieses Bedürfnis nach dem Göttlichen,
welches der Mensch in sich verspüren soll, zur Religion wachse, dann
antworten die Modernisten so: Wissenschaft und Geschichte seien, sagen
sie, von zwei Grenzen eingeschlossen: von einer äußeren, nämlich der
sichtbaren Welt; und von einer inneren, dem Bewußtsein. Wenn eine dieser
Grenzen erreicht ist, führe kein Weg mehr weiter, denn jenseits liege
das Reich des Unerkennbaren. Angesichts dieses Unerkennbaren, ob es nun
außerhalb des Menschen liege und jenseits der sichtbaren Natur oder ob
es innerhalb im Unterbewußtsein ruhe, errege das Bedürfnis nach dem
Göttlichen in einem schon der Religion zugeneigten Gemüt ein besonderes
Gefühl, so wie es der Fideismus will, ohne daß dabei ein Urteil der
Vernunft vorausgehe. In diesem Gefühl ist aber die göttliche Realität
als sein Gegenstand und ebenso als seine letzte Ursache enthalten. An
dieser Stelle tritt der Mensch in Wechselwirkung mit Gott. Dieses Gefühl
nennen die Mondernisten den Glauben. Für sie bedeutet dieses Gefühl den
Anfang der Religion.
8. Ihre Philosophie – oder besser gesagt: ihr Wahnsinn – ist jedoch
an dieser Stelle noch nicht zu Ende. In dem beschriebenen Gefühl finden
sie nicht nur den Glauben, sondern bei dem Glauben und in dem so
verstandenen Glauben liegt nach ihrer Meinung zugleich auch die
Offenbarung. Welches Kriterium wäre für die Offenbarung sonst noch
nötig? Soll man es etwa nicht Offenbarung oder den Beginn der
Offenbarung nennen, wenn das religiöse Gefühl im Bewußtsein auftaucht?
Sollte man nicht sagen, daß sich Gott in diesem religiösen Gefühl selbst
offenbart, wenn auch noch nicht klar? Weiter heißt es: Gott ist
gleichzeitig Gegenstand und Ursache des Glaubens. In gleicher Weise muß
man daher von der Offenbarung sagen, daß sie von Gott handelt und auch
von ihm herrührt. Gott ist zugleich der Offenbarende und der
Geoffenbarte. Auf diese Weise, ehrwürdige Brüder, kommen die Modernisten
zu der absurden Behauptung, jede Religion ist zugleich natürlich und
übernatürlich, je nach dem von welchem Standpunkt aus sie betrachtet
wird. Aus diesem Grund gebrauchen sie Bewußtsein und Offenbarung im
gleichen Sinn. Daher besagt ihr Gesetz, daß das religiöse Bewußtsein die
allgemeine Norm darstellt und mit der Offenbarung auf einer Stufe
steht. Ihr muß sich alles beugen, selbst die höchste kirchliche Gewalt,
ob sie nun Lehren, kultische oder Disziplinarsatzungen aufstellt.
9. Eines muß jedoch bei diesem Werdegang des Glaubens und der
Offenbarung, wie ihn sich die Modernisten denken, wohl beachtet werden.
Für die historisch-kritischen Konsequenzen, welche sie daraus ziehen,
ist dies von höchster Bedeutung. Sie reden von dem Unerkennbaren, das
sich jedoch gegenüber dem Glauben nicht rein und losgelöst darbietet.
Vielmehr steht es im engsten Zusammenhang mit irgendeinem Phänomen. Auch
wenn ein solches in das Gebiet der Wissenschaft oder der Geschichte
fällt, so ragt es doch auch wieder über dieses Gebiet hinaus. Dieses
Phänomen kann eine Tatsache innerhalb der Natur sein, die jedoch
wiederum etwas Geheimnisvolles in sich verbirgt, oder ein Mensch, dessen
Charakter, Handlungen oder Worte sich nicht mit den gewöhnlichen
Gesetzen der Geschichte in Einklang bringen lassen. Daraus resultiert,
daß der Glaube, angeregt von dem Unerkennbaren, das mit dem Phänomen
verbunden ist, die Gesamtheit des Phänomens erfaßt und es in gleicher
Weise mit seinem eigenen Leben durchdringt. Dieser Hergang führt zu
einer doppelten Folge. Zuerst kommt es zu einer Verklärung des
Phänomens, indem dieses über seine wirklichen Verhältnisse hinausgehoben
wird, um es für die Aufnahme des göttlichen Charakters, welchen der
Glaube hineinlegt, geeigneter zu machen. Dann entsteht, wenn man es so
ausdrücken darf, eine Art Entstellung des Phänomens, indem es der Glaube
aus den Bedingungen des Ortes und der Zeit herauslöst und dem
zuschreibt, was ihm eigentlich nicht gehört. Dies geschieht besonders
bei Phänomenen, die der Vergangenheit angehören, und in einem höheren
Grad, um so älter sie sind. Daraus ergeben sich für die Modernisten zwei
Kanones, die in Verbindung mit den bereits aus dem Agnostizismus
gewonnenen Erkenntnissen die Grundlage der historischen Kritik bilden.
Ein Beispiel wird Licht in das Dunkel bringen. Nehmen wir die Person
Christi. Es heißt, daß die Wissenschaft und die Geschichte in der Person
Christi nichts anderes als einen Menschen erblicken kann. Daher ist
Kraft des ersten Kanons, wie ihn der Agnostizismus diktiert, aus Seiner
Geschichte alles zu streichen, was nach Göttlichem aussieht. Nach dem
zweiten Kanon hat der Glaube die Person Christi verklärt. Daher ist
alles, was sie über die geschichtlichen Verhältnisse erhebt, in Abzug zu
bringen. Nach dem dritten Kanon wurde schließlich die Person Christi
auch entstellt. Kurz gesagt bedeutet das, alles was an Seinen Reden und
Taten, Seinem Charakter, Seinem Stand, Seiner Erziehung und an dem
örtlichen und zeitlichen Milieu nicht stimmt, ist in Abrede zu stellen.
Das Schlußverfahren ist zwar sonderbar, stellt jedoch eindeutig die
Kritik des Modernisten dar.
14. Das religiöse Gefühl, wie es durch die vitale Immanenz aus den
Tiefen des Unterbewußtseins entspringt, ist der Ursprung aller
Religionen sowie von allem, was in jeder Religion einmal zu Tage
getreten ist, oder was noch zu Tage treten wird. Am Anfang ist dieses
Gefühl noch roh und sozusagen formlos. Unter dem Einfluß jenes
geheimnisvollen Prinzips, welches ihm das Dasein gegeben hat, entwickelt
es sich allmählich im gleichen Schritt mit der Entwicklung des
menschlichen Lebens, da es selbst nichts anderes als eine Lebensäußerung
ist. Das wäre die Entstehungsgeschichte einer jeden Religion, auch der
übernatürlichen, da es sich bei allem nur um die Entfaltung des
religiösen Gefühls handelt. Auch der Katholizismus ist davon nicht
ausgenommen, da er in gleicher Weise wie alle anderen Religionen
behandelt wird. Im Bewußtsein Christi, dessen Genius einzigartig ist,
den niemals ein Mensch erreicht hat oder erreichen kann, ist dieser auf
keine andere Weise als nur im Prozeß der vitalen Immanenz entstanden.
Man ist starr vor Staunen, wenn man diese verwegenen Behauptungen und
Blasphemien zu hören bekommt! Trotzdem, ehrwürdige Brüder, wagen es
nicht nur Ungläubige, diese Behauptungen in die Welt zu setzen.
Tatsächlich bekennen sich dazu in aller Öffentlichkeit auch Katholiken,
sogar manche Priester, die mit einem solchen Wahnsinn die Kirche
erneuern wollen. Dadurch wird der alte Irrtum übertroffen, wonach die
menschliche Natur in einem gewissen Sinn ein Recht auf die
übernatürliche Ordnung haben sollte. Vielmehr ist man sehr viel weiter
gegangen. Man behauptet, unsere heilige Religion sei, im Menschen
Christus und in gleicher Weise auch in uns, aus unserer eigenen Natur
und ohne fremde Unterstützung geboren. Es ist nicht möglich, noch
gründlicher mit der gesamten übernatürlichen Ordnung aufzuräumen. Das
Vatikanische Konzil hatte daher sehr wohl begründet und bestimmt: Wenn
jemand behauptet, der Mensch kann von Gott nicht zu einer Erkenntnis
oder einer Vollkommenheit erhoben werden, die über die natürliche
hinausgeht, sondern er kann und muß selbst in ständigem Fortschritt
schließlich zum Besitz des Wahren und Guten gelangen, der sei im Banne7.
15. Bis zu dieser Stelle kann es den Anschein haben, ehrwürdige
Brüder, daß für die Vernunft kein Platz mehr übrig geblieben ist. Aber
auch die Vernunft hat nach der Lehre der Modernisten am Zustandekommen
des Glaubensaktes seinen Anteil. Interessant ist dabei ihre Denkweise.
In dem bereits oft erwähnten Gefühl soll sich zwar Gott dem Menschen
zeigen, da man jedoch durch das Gefühl alleine zu keiner Erkenntnis
gelangt, geschieht dies nur wenig deutlich und präzise, so daß er sich
vom glaubenden Subjekt kaum oder gar nicht unterscheiden läßt. Deshalb
benötigt das Gefühl eine eigene Durchleuchtung, damit Gott überhaupt
eindeutig hervortritt. Das ist nun die Aufgabe der denkenden und
analysierenden Vernunft. Mit der Vernunft formt der Mensch seine inneren
Lebensphänomene zu Erkenntnisbildern um. Erst danach ist es ihm
möglich, dies in Worten auszudrücken. Daher stammt das den Mondernisten
geläufige Wort, daß der religiöse Mensch seinen Glauben denken müsse.
Zum Gefühl tritt also die Vernunft hinzu, die ihren Blick auf dasselbe
richtet, so wie ein Maler daran arbeitet, der die verlöschenden Linien
eines Gemäldes mustert, um sie dann wieder klarer hervorheben zu können.
In etwa dieser Weise spricht einer der Führer der Modernisten darüber.
Die Vernunft arbeite bei dieser Tätigkeit auf doppelte Weise; zuerst in
einem natürlichen und spontanen Akt, wobei sie den Gegenstand in einem
einfachen, volkstümlichen Satz ausdrücke; sodann aber, reflektiert und
gründlicher – oder, wie sie sagen, durch Ausarbeitung des Gedankens –,
werde der durchdachte Gegenstand in sekundären Sätzen ausgesprochen,
abgeleitet von jenem ersten, einfachen, jedoch ausgefeilter und klarer
unterschieden. Wenn diese sekundären Sätze endlich vom höchsten Lehramt
der Kirche bestätigt seien, bildeten sie das Dogma.
16. Dadurch gelangt die modernistische Lehre schließlich zu ihrem
Hauptbestandteil, zum Ursprung und zum innersten Wesen des Dogmas. Die
Entstehung des Dogmas wird in diese ursprünglichen und einfachen Formeln
gelegt, welche in etwa für den Glauben notwendig sind, denn um eine
wirkliche Offenbarung zu erhalten, muß im Bewußtsein eine eindeutige
Erkenntnis Gottes vorhanden sein. Es scheint jedoch, daß sie das
eigentliche Dogma in den sekundären Sätzen finden wollen. Um sein Wesen
erfassen zu können, muß man zuerst die Frage stellen: Wie verhalten sich
die religiösen Formeln gegenüber dem religiösen Gefühl? Die Antwort ist
leicht gefunden, wenn man nur festhält, daß derartige Formeln einzig
und allein dem Zweck dienen, den Gläubigen zu ermöglichen, sich von
seinem Glauben Rechenschaft abzugeben. Sie stehen also in der Mitte
zwischen dem Gläubigen und seinem Glauben. Für den Glauben sind sie nur
unzulängliche Zeichen für seinen Inhalt, Symbole, wie man sie gewöhnlich
nennt. Für den Gläubigen stellen sie allerdings reine Hilfsmittel dar.
17. Es läßt sich also in keiner Weise festlegen, daß sie absolut die
Wahrheit enthalten, denn die Symbole sind die Bilder der Wahrheit und
müssen sich als solche dem religiösen Gefühl und seiner Beziehung zum
Menschen anpassen. Als Hilfsmittel dienen sie den Wegen zur Wahrheit und
sind daher ebenfalls dem Menschen und seiner Beziehung zum religiösen
Gefühl anzupassen. Gegenstand des religiösen Gefühls ist das Absolute,
das unendlich viele Erscheinungsweisen aufweist, und daher bald in
vielen verschiedenen Formen hervortreten kann. Ebenso kann sich auch der
gläubige Mensch in vielen verschiedenen Lagen befinden. Daher müssen
diesem Wechsel auch die Formeln unterliegen, die wir Dogmen nennen, und
notwendigerweise ebenso veränderlich sind. Dadurch stehen der inneren
Entwicklung des Dogmas sämtliche Türen offen. Sophismen über Sophismen,
welche die gesamte Religion vollkommen zugrunde richten!
Die Möglichkeit, besser gesagt, die Notwendigkeit einer Entwicklung
und Veränderung des Dogmas, wird von den Modernisten nicht nur
hartnäckig behauptet, sondern sie stellt die notwendige Folge ihrer
Ansichten dar. Es gehört für sie zu den wichtigsten Lehren, die sich für
sie aus dem Prinzip der vitalen Immanenz ergibt. Die religiösen
Formeln, wenn sie wirklich religiös sind und kein reines Spiel des
Verstandes darstellen, müssen lebendig und vom Leben des religiösen
Gefühls selbst beseelt sein. Das soll nicht bedeuten, daß diese Formeln,
besonders wenn sie nur einer Vorstellung Ausdruck geben, nach der
Maßgabe des religiösen Gefühls erfunden werden müßten. Sowohl der
Ursprung, als auch die Anzahl und Art sind nicht wichtig. Vielmehr muß
sich diese das religiöse Gefühl lebendig aneignen, wenn es notwendig
ist, auch mit einer gewissen Umgestaltung. Mit anderen Worten
gesprochen, bereits die Urformel muß vom Herzen angenommen und bestätigt
werden.
Auch bei der Ausarbeitung der sekundären Formel muß das Herz die
Führung haben. Daher müssen die Formeln, wenn sie lebendig sein wollen,
dem Glauben und dem Gläubigen in gleicher Weise angepaßt sein und
bleiben. Wenn aus irgendeinem Grund dieses Angepaßtsein aufhören sollte,
verlieren sie ihren ursprünglichen Wert und bedürfen der Änderung. Die
dogmatischen Formeln sind nur wenig bedeutend und auch sehr kurzlebig.
Es ist daher nicht verwunderlich, daß sich der Spott und die Verachtung
der Modernisten in reicher Fülle über sie ergießt, während das religiöse
Gefühl und das religiöse Leben nach ihrem Dafürhalten alles darstellt.
Sie scheuen sich auch nicht davor, der Kirche vorzuwerfen, sie würde auf
einer abschüssigen Bahn wandeln, wenn sie zwischen der äußerlichen
Bedeutung der Formeln und ihrem religiösen und moralischen Wert keine
Unterscheidung kennt, sich jedoch mit vergeblicher Anstrengung an
sinnlose Formeln klammert und dabei die Religion zugrunde gehen läßt.
Diese blinden Führer haben im Taumel ihrer hochmütigen Arroganz über das
Wissen sogar die ewig wahren Begriffe von Wahrheit und Religion
verändert. Begründet auf ein neues System und in wilder, zügelloser Jagd
nach Neuem vergessen sie, die Wahrheit an der Stelle zu suchen, wo sich
ihre sichere Stätte befindet. Die heiligen, apostolischen
Überlieferungen werden verachtet und dafür andere, eitle, nichtige und
ungewisse Lehren eingesetzt, die von der Kirche nicht gebilligt werden.
In ihrer Verblendung vertreten sie die Meinung, daß sie selbst die
Wahrheit stützen und halten können8.
14. So viel, ehrwürdige Brüder, über den Modernisten als Philosophen.
– Geht man einen Schritt weiter und fragt sie nach dem Unterschied
zwischen dem Gläubigen und dem Philosophen, so ist zu beachten, daß der
Philosoph zwar die Realität des Göttlichen annimmt, sofern es sich dabei
um dasselbe Objekt des Glaubens handelt, diese Realität jedoch
ausschließlich im Geiste des Gläubigen als Gegenstand eines Gefühls oder
als eine Aussage gelten läßt, aber nicht über den Rahmen der
Erscheinungswelt hinausgeht. Den Philosophen interessiert es nicht, ob
diese Realität auch außerhalb des Gefühls oder einer solchen Aussage
besteht. Für den Modernisten als Gläubigen steht es dagegen sehr wohl
fest, daß das Göttliche eine Realität in sich selbst hat und in keiner
Weise vom Gläubigen abhängt. Will man wissen, worauf sich diese
Behauptung des Gläubigen gründet, so erhält man als Antwort: Auf die
eigene Erfahrung. Wenn sie sich durch diese Antwort von den
Rationalisten entfernen, so fallen sie damit auf der anderen Seite in
den Irrtum der Protestanten und falschen Mystiker. Sie erklären dies
folgendermaßen. Im religiösen Gefühl würde eine Art Intuition des
Herzens liegen. Damit würde man ohne jede Vermittlung die Realität
Gottes selbst erfassen und dadurch zu einer Überzeugung von Gottes
Dasein und seinem Wirken innerhalb und außerhalb des Menschen gelangen,
wie sie keine Wissenschaft geben kann. Sie nehmen also eine eigentliche
Erfahrung an, die besser ist, als alle Erfahrungen, die sich aus der
Vernunft begründen. Leugnet einer dieselbe nach dem Vorbild der
Rationalisten, dann begründen sie diese Ansicht damit, daß man sich
nicht in die rechte moralische Verfassung versetzen will, um die
Erfahrung zu machen. Jeder, der diese Erfahrung erlebt hat, wird im
eigentlichen und wahren Sinn zum Gläubigen. Von den katholischen
Anschauungen ist diese Ansicht weit entfernt. Wie bereits erwähnt,
wurden durch das Vatikanische Konzil diese Irrtümer bereits verurteilt.
Wie leicht diese Ansichten in Verbindung mit den zuvor erwähnten
Irrtümern zum Atheismus führen können, wird an einer späteren Stelle
noch aufgezeigt.
Zunächst sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, daß nach dieser
Lehre von der Erfahrung, verbunden mit der anderen Lehre des
Symbolismus, jede Religion, auch die heidnische, als wahr anzuerkennen
ist. Warum sollten diese Erfahrungen nicht auch in jeder beliebigen
Religion gemacht werden? Mehr als einer spricht davon, diese Erfahrungen
gemacht zu haben. Mit welchem Recht sollte ein Modernist eine Erfahrung
als unwahr ablehnen, wenn ein Türke dafür bürgt. Warum sollten nur die
Erfahrungen der Katholiken als wahr gelten? Auch die Modernisten handeln
nicht auf diese Weise. Die einen deuten es an, die anderen sprechen es
offen aus – alle Religionen sind wahr. Offenbar bleibt auch keine andere
Ansicht übrig. Aus welchem Grund könnte in ihrem System eine Religion
überhaupt falsch sein? Entweder irrt das religöse Gefühl, oder die vom
Verstand aufgestellte Formel. Das religiöse Gefühl ist jedoch überall
ein- und dasselbe, vielleicht mit der Einschränkung, daß es an der einen
oder anderen Stelle etwas weniger vollkommen ist. Für die Wahrheit der
Verstandesformel ist es ausreichend, wenn sie dem religiösen Gefühl und
dem gläubigen Menschen zusagt, ohne auf die Schärfe seines Verstandes
Rücksicht zu nehmen. Der Modernist könnte im Wettkampf der verschiedenen
Religionen höchstens ein Argument geltend machen, und zwar, daß der
Katholizismus mehr Wahrheit enthält, weil er lebendiger ist. Ferner
würde er dem Namen einer christlichen Religion mehr entsprechen, weil er
dem ursprünglichen Christentum auf vollkommenere Weise entspricht. Daß
sich alle diese Folgerungen aus den vorgelegten Daten wirklich ergeben,
kann niemand übersehen. Dagegen ist es sehr verwunderlich, daß es
Katholiken und Priester geben kann, die solche Monstrositäten zwar
verabscheuen, zumindest nehmen Wir das zu ihren Gunsten an, sich jedoch
so verhalten, als würden sie dieselben billigen. Gerade die Verfechter
dieser Irrtümer werden von ihnen auf so hohe Weise gerühmt und
öffentlich gefeiert, daß man fast zu der Ansicht gelangen kann, die
Anerkennung gelte weniger den Männern, die sicher in irgendeinem
Teilbereich ihre persönlichen Verdienste haben, als vielmehr den
falschen Lehren, die sie offen vertreten und dabei versuchen, diese auf
jede Art und Weise unter das Volk zu bringen.
15. Doch diese Lehre von der Erfahrung ist – über das Gesagte hinaus –
noch in einer weiteren Hinsicht dem katholischen Glauben vollständig
entgegengesetzt: Denn sie wird auch auf die Tradition angewandt, an der
die katholische Kirche bisher immer festgehalten hat, und wird dadurch
einfach vernichtet. Die Modernisten verstehen unter der Tradition eine
Art Mitteilung der ursprünglichen Erfahrung durch die Predigt mittels
der Verstandesformel. Außer der repräsentativen Kraft, wie sie sich
ausdrücken, soll die Formel auch eine suggestive Wirkung haben. Auf der
einen Seite äußert sich diese im Glaubenden selbst, indem sie sein etwa
eingeschlafenes religiöses Gefühl aufweckt und die einstmals gemachte
Erfahrung wiederbelebt. Sie erstreckt sich jedoch auch auf Personen, die
noch nicht glauben. Zuerst ruft sie in ihnen das religiöse Gefühl
hervor und bewirkt dadurch ihre erste Erfahrung. Auf diese Weise findet
die religiöse Erfahrung eine weite Verbreitung innerhalb der Menschheit,
nicht nur durch die Predigt vor den Zeitgenossen, sondern auch
ausgedehnt auf spätere Geschlechter, durch Bücher und durch mündliche
Überlieferung. Manchmal kann die auf diese Weise mitgeteilte Erfahrung
Wurzel fassen und aufleben. Dagegen welkt sie ein anderes Mal sofort
dahin und stirbt ab. Lebt sie jedoch auf, so stellt das für den
Modernisten einen Beweis ihrer Wahrheit dar. Wahrheit und Leben gehören
für sie zusammen. An dieser Stelle erhält die Schlußfolgerung wieder
ihre Berechtigung, daß alle Religionen wahr sind, da sie ansonsten nicht
leben könnten.
16. Die bisherigen Erörterungen, ehrwürdige Brüder, erlauben uns, ein
richtiges Urteil über das Verhältnis von Glauben und Wissen nach der
modernistischen Lehre zu fällen. Unter dem Namen des Gewissens gehört
für sie auch die Geschichte. Zuerst steht fest, daß der Gegenstand des
einen in jeglicher Art außerhalb des Gegenstandes des anderen liegt.
Hier herrscht eine scharfe Trennung. Der Glaube befaßt sich
ausschließlich mit dem, was die Wissenschaft als zum Unerkennbaren
gehörend betrachtet. Die Aufgaben beider sind ganz verschieden. Die
Wissenschaft bewegt sich auf dem Gebiet der Phänomene. Für den Glauben
bleibt dabei kein Platz. Der Glaube lebt im Göttlichen, wohin keine
Wissenschaft dringt. Es ist daher völlig ausgeschlossen, daß es jemals
zu einem Konflikt zwischen dem Glauben und der Wissenschaft kommt. Wenn
beide in ihren Gebieten bleiben, können sie sich nicht begegnen und
daher auch nicht widersprechen. Wenn man einwenden würde, daß es Dinge
in der sichtbaren Welt gibt, die auch zum Glauben gehören, zum Beispiel
das irdische Leben Christi, so werden sie das leugnen. Gewiß zählt dies
zu den Phänomenen. So weit es jedoch mit dem Leben des Glaubens
durchdrungen und vom Glauben in der zuvor erwähnten Weise verklärt und
entstellt wird, entrückt es der sinnlichen Welt und wird in das Gebiet
des Göttlichen erhoben. Auf die Frage, ob Christus wirkliche Wunder
gewirkt und zukünftige Dinge vorausgesehen hat, ob er wirklich
auferstanden und in den Himmel aufgefahren ist, hat die agnostische
Wissenschaft eine ablehnende, der Glaube jedoch eine zustimmende Antwort
bereit, ohne daß deshalb zwischen beiden Streit entstehen würde. Wenn
der Philosoph zu Philosophen spricht, sagt er nein, weil er Christus nur
nach der historischen Realität betrachtet. Der Gläubige im Umgang mit
den Gläubigen sagt ja, weil ihm am Leben Christi liegt, wie es vom
Glauben und im Glauben erlebt wird.
17. Nun wäre es aber ein großartiger Selbstbetrug, sich – diese
Theorien vorausgesetzt – für bevollmächtigt zu halten zu glauben, daß
Glaube und Wissenschaft voneinander unabhängig seien. Wer aber nur
daraus schließen wollte, daß überhaupt kein gegenseitiges
Abhängigkeitsverhältnis zwischen dem Glauben und der Wissenschaft
besteht, befände sich im Irrtum. Für die Wissenschaft hätte er
allerdings vollkommen Recht. Anders verhält es sich jedoch mit dem
Glauben. Dieser ist nicht nur in einem Bereich, sondern gleich in dreien
der Wissenschaft unterworfen. Zuerst kommt in Betracht, daß an jeder
religiösen Tatsache, sieht man von der göttlichen Realität und der
diesbezüglichen Erfahrung des Gläubigen ab, alles übrige und besonders
die religiösen Formeln im Bereich der Phänomene liegen und daher unter
die Wissenschaft fallen. Der Gläubige darf sich nicht nach seinem
Belieben aus der Welt zurückziehen. Solange er jedoch in dieser Welt
weilt, wird er unter keinen Umständen den Gesetzen, der Beobachtung und
dem Urteil der Wissenschaft sowie der Geschichte entgehen. Wenn gesagt
wird, daß Gott ausschließlich Gegenstand des Glaubens ist, so ist das
nur für die Realität Gottes gültig, jedoch nicht für die Idee eines
Gottes. Diese gehört in den Bereich der Wissenschaft. Solange sie über
die sogenannte Begriffswelt philosophiert, kann sie auch das Absolute
und das Ideale erfassen.
Die Philosophie, besser gesagt die Wissenschaft, hat somit das Recht,
über die Gottesidee Erkenntnisse anzustellen, sie in ihrer Entwicklung
zu regeln und sie zu korrigieren, falls sich etwas Fremdes
eingeschlichen hat. Die modernistische Seite stellt daher die Forderung,
die religiöse Entwicklung mit der moralischen und der intellektuellen
zu verbinden, oder, nach den Worten eines ihrer Wortführer, sie ihnen
unterzuordnen. Der Mensch kann einen Zwiespalt in sich selbst nicht
ertragen. Selbst der Gläubige fühlt sich mit innerer Notwendigkeit zu
einem Ausgleich zwischen Glauben und Wissen gedrängt, um in seine
allgemeine wissenschaftliche Weltanschauung keine Dissonanz zu bringen.
Damit ist die völlige Unabhängigkeit des Glaubens von der Wissenschaft
erwiesen, während der Glaube, trotz Proklamation der Trennung beider,
sich doch der Wissenschaft beugen muß. Dem gegenüber, ehrwürdige Brüder,
hat Unser glorreicher Vorgänger, Papst Pius IX., betont9:
In allem, was die Religion betrifft, hat die Philosophie nicht zu
herrschen, sondern zu dienen. Sie hat nicht vorzuschreiben, was man
glauben muß, sondern es in vernünftiger Unterwerfung anzunehmen. Es ist
nicht die Tiefe der göttlichen Geheimnisse zu ergründen, sondern
vielmehr diese in kindlicher Demut zu verehren. Die Modernisten stellen
dies allerdings auf den Kopf. Auf sie läßt sich daher anwenden, was
Unser Vorgänger, Gregor IX., über einige Theologen seiner Zeit schrieb10:
Einige unter Euch sind vom Geist der Eitelkeit aufgebläht und
versuchen, durch profane Neuerungen, die von den Vätern gesetzten
Schranken zu durchbrechen. Sie wollen den Sinn der Heiligen Schrift …
nach den philosophischen Lehren der Vernunft beugen, um mit der
Wissenschaft zu prunken, nicht um ihre Hörer zu fördern … . Durch
allerlei fremde Lehren in die Irre geführt, machen sie den Kopf zum
Schwanz und zwingen die Königin, ihrer Magd zu dienen.
18. Noch deutlicher ist dies zu erkennen, wenn man die Handlungsweise
der Modernisten betrachtet, welche in besonders guter Weise zu ihrer
Lehre paßt. Ihre Schriften und Reden sind voll von scheinbaren
Widersprüchen, so daß man leicht glauben kann, sie würden schwanken und
wären ihrer Sache nicht sicher. Dies geschieht jedoch aus voller
Überlegung. Es ist der Ausfluß ihrer Anschauungen über die Trennung von
Glauben und Wissen. Manche Ausführungen in ihren Büchern könnte ein
Katholik vollständig unterschreiben. Wenn man jedoch das Blatt wendet,
könnte man glauben, ein Rationalist führt die Feder. Schreiben sie
Geschichte, ist von der Gottheit Jesu Christi nicht die Rede. Steigen
sie jedoch auf die Kanzel, dann bekennen sie dieselbe ohne Bedenken.
Schreiben sie Geschichte, dann gelten für sie Konzilien und Väter gar
nichts. Dahingegen werden in der Katechese beide wieder mit Ehrfurcht
zitiert. So wollen sie auch die theologische, pastorale Exegese von der
wissenschaftlichen, geschichtlichen trennen. Nach dem Prinzip, daß die
Wissenschaft vom Glauben durchaus abhängig ist, treten sie in ihrer
Philosophie, Geschichte oder Kritik ungescheut in die Fußstapfen
Luthers. Prop. 29, verurteilt durch Leo X. in der Bulle „Exsurge Domine“
vom 16. Mai 1520: Wir haben einen Weg gefunden, die Autorität der
Konzilien zu vernichten, ihren Verhandlungen frei zu widersprechen, ihre
Dekrete zu beurteilen und zuversichtlich alles auszusprechen, was wahr
scheint, mag es auch von irgendeinem Konzil gebilligt oder mißbilligt
werden. Ihre Verachtung gegen katholische Verordnungen, gegen die
heiligen Väter, die ökumenischen Konzilien und das kirchliche Lehramt
tragen sie offen zur Schau. Stellt man sie zur Rede, dann nimmt man
ihnen die Freiheit. Durch ihre Lehre, der Glaube muß der Wissenschaft
unterworfen sein, tadeln sie auf Schritt und Tritt ganz offen die
Kirche. Sie behaupten, die Kirche würde sich hartnäckig weigern, ihre
Dogmen den Ansichten der Philosophie zu unterwerfen und anzupassen.
Nachdem sie mit der alten Theologie aufgeräumt haben, machen sie sich
ans Werk, eine neue einzuführen, die ihren philosophischen Träumereien
zu willen ist.
19. Hier bietet sich nun die Gelegenheit, ehrwürdige Brüder, die
Modernisten auch in der theologischen Arena zu betrachten, was
allerdings nicht gerade ein reines Vergnügen bereitet. In aller Kürze
muß es doch geschehen. Es handelt sich um die Versöhnung von Glauben und
Wissen, und zwar durch Unterordnung des einen unter das andere. Die
modernistische Theologie stützt sich dabei auf dieselben Prinzipien,
welche beim Philosophen so großen Erfolg hatten. Er muß sie lediglich
den Gläubigen durch das Prinzip der Immanenz und des Symbolismus
anpassen. So löst er spielend seine Aufgabe. Der Philosoph sagt ihm: Das
Prinzip des Glaubens ist immanent. Der Gläubige fügt hinzu: Dieses
Prinzip ist Gott. Der Theologe schließt mit der Folgerung: Also ist Gott
im Menschen immanent. Daher die theologische Immanenz. Ferner steht für
den Philosophen fest, daß die Vorstellungen des Glaubensobjektes nur
symbolisch sind. In der gleichen Weise steht für den Gläubigen fest, daß
das Glaubensobjekt Gott ist, wie er in sich ist. Daraus folgert der
Theologe: Die Vorstellungen von der Realität Gottes sind symbolisch.
Daher der theologische Symbolismus. Dabei handelt es sich um
schwerwiegende Irrtümer. Die Konsequenzen werden zeigen, welches Unheil
diese beiden Sätze anrichten können. Sprechen wir zuerst vom
Symbolismus. Die Symbole sind in bezug auf ihren Gegenstand Symbole. In
bezug auf den Gläubigen stellen sie Hilfsmittel dar. Der Gläubige darf
sich daher zunächst nicht über Gebühr an die Formel als solche hängen.
Er soll sie nur gebrauchen, um zur absoluten Wahrheit zu gelangen. Diese
wird von der Formel zum Teil enthüllt, zum Teil jedoch auch
verschleiert. Die Formel versucht sie auszudrücken, kann sie aber
niemals erreichen. Dann wird daran erinnert, daß der Gläubige solche
Formeln nur insoweit gebrauchen soll, als sie ihm helfen, da sie ihm zur
Hilfe geboten werden, nicht zur Last. Dabei muß man allerdings, aus
Rücksicht auf ihre allgemeine Annahme, den nötigen Respekt vor den
Formeln wahren, welche die öffentliche Autorität als geeigneten Ausdruck
für das allgemeine Bewußtsein befunden hat, solange wenigstens diese
Autorität nichts anderes bestimmt. In welcher Weise die Modernisten von
der Immanenz denken, ist schwer anzugeben. Darüber sind sich nicht alle
einig. Einige suchen sie darin, daß Gott mit seinem Wirken dem Menschen
innerlich nahe ist, näher als der Mensch sich selbst. Wenn man es
richtig versteht, ist daran natürlich nichts auszusetzen. Andere finden
sie darin, daß sich Gottes Wirken mit dem Wirken der Natur vereinigt,
als erste Ursache mit der zweiten. Dadurch wäre die übernatürliche
Ordnung tatsächlich aufgehoben. Wieder andere erklären es in der Weise,
daß man den Verdacht einer pantheistischen Auffassung nicht unterdrücken
kann, der Zusammenhang mit ihren sonstigen Lehren wäre dann jedoch
besser.
20. Zu dem Satz von der Immanenz tritt ein weiterer hinzu, welchen
man den Satz der göttlichen Permanenz nennen könnte. Den Unterschied
könnte man ungefähr mit der eigenen Erfahrung und der durch die
Überlieferung weitergegebenen Erfahrung vergleichen. Ein Beispiel, das
von der Kirche und den Sakramenten genommen ist, soll dies näher
erklären. Es soll nicht angenommen werden, daß die Kirche und die
Sakramente von Christus selbst herrühren. Das verbietet der
Agnostizismus. Dieser sieht in Christus nur den Menschen, dessen
religiöses Bewußtsein sich wie bei den übrigen Menschen erst allmählich
gebildet hat. Das verbietet auch das Gesetz der Immanenz, welches
sogenannte äußere Applikationen nicht zuläßt. Ferner verbietet es das
Gesetz der Entwicklung. Diese erfordert Zeit und eine Reihe sich
ablösender Bedingungen, damit sich die Keime entfalten können. Zum
Schluß verbietet dies auch die Geschichte, indem sie für einen
derartigen Verlauf den tatsächlichen Beweis bringt. Doch ist an einer
mittelbaren Stiftung der Kirche und der Sakramente durch Christus
festzuhalten. Wie das? Das christliche Gesamtbewußtsein soll bereits
gewissermaßen im Bewußtsein Christi enthalten gewesen sein, so wie die
Pflanze im Samen. Wie nun die Keime das Leben des Samens ausleben, so
hat man sich auch das Leben der gesamten Christenheit als ein Ausleben
des Lebens Christi zu denken. Nach dem Glauben ist das Leben Christi
göttlich, somit auch das Leben der Christenheit. Wenn dieses Leben daher
im Laufe der Zeiten die Kirche und die Sakramente erstehen ließ, so
kann man mit vollem Recht ihren Ursprung Christus zuschreiben und ihn
göttlich nennen. Auf dieselbe Weise sind ihnen auch die Heilige Schrift
und die Dogmen göttlich. Damit ist die modernistische Theologie so
ziemlich erschöpft. Ein sehr dürftiger Hausrat, der jedoch mehr als
ausreichend ist, wo der Grundsatz vom willigen Gehorsam gegen alle
Aussprüche der Wissenschaft gilt. Die Anwendung auf das folgende ist
leicht zu vollziehen.
21. Vom Ursprung und Wesen des Glaubens war bereits die Rede. Der
Glaube treibt jedoch viele Sprosse, namentlich die Kirche, das Dogma,
den religiösen Kult und unsere heiligen Schriften. Auch darüber müssen
wir die modernistische Lehre kennen. Beginnen wir mit dem Dogma. Es
wurde bereits aufgezeigt, wie es entsteht und was es eigentlich ist.
Seine Entstehung verdankt es einer Art Antrieb oder Notwendigkeit, die
den Glaubenden zur Verarbeitung seiner Gedanken veranlaßt, um das eigene
sowie auch das fremde Bewußtsein zu klären. Die ganze Arbeit besteht
darin, die ursprüngliche Verstandesformel zu feilen und zu glätten.
Allerdings nicht deshalb, um sie in sich logisch zu entwickeln, sondern
um sie den Gegebenheiten anzupassen. Diese Entwicklung nennen sie dann
mit einem sehr dunklen Ausdruck vital, also lebendig. Dadurch erreicht
man langsam, wie bereits erwähnt, die sekundären Formeln. Wenn diese
dann organisch zu einem Lehrgebäude vereinigt und als dem allgemeinen
Bewußtsein entsprechend vom öffentlichen Lehramt bestätigt sind, dann
heißen sie Dogma. Davon sind die Erörterungen der Theologen wohl zu
unterscheiden. Diese haben zwar am Leben des Dogmas keinen Anteil,
können aber dazu dienen, die Religion mit der Wissenschaft in Einklang
zu bringen und Widersprüche zwischen beiden zu heben sowie diese auch
andererseits nach außen zu beleuchten und zu verteidigen. Allenfalls
können sie auch dienlich sein, um für ein künftiges Dogma den Stoff
vorzubereiten. Über den religiösen Kult wäre nicht viel zu bemerken,
wenn unter diesem Namen nicht auch die Sakramente enthalten wären.
Darüber findet man bei den Modernisten die größten Irrtümer. Der Kultus
soll aus einem doppelten Antrieb, einer doppelten Nötigung entstehen. In
diesem System muß alles aus inneren Antrieben und Notwendigkeiten
heraus erwachsen. Die eine drängt dazu, daß die Religion sinnlich
umkleidet in Erscheinung tritt. Die andere trägt dazu bei, daß sie
bekannt gemacht wird. Beides ist ohne wahrnehmbare Form und ohne heilige
Handlungen, also durch die Sakramente, unmöglich. Die Sakramente dürfen
jedoch nur Symbole oder Zeichen sein, ohne deshalb der Wirkung zu
entbehren. Ein kleines Beispiel, um die Art ihres Wirkens zu zeigen. Es
wird auf gewisse Schlagwörter hingewiesen, die „ziehen“, wie man zu
sagen pflegt, da sie für die Propaganda und ihre gewaltigen und
aufregenden Ideen eine große Zugkraft besitzen. In der Weise, wie sich
die Schlagwörter zu den Ideen verhalten, so verhalten sich auch die
Sakramente zum religiösen Gefühl, das ist alles. Viel deutlicher würde
man sagen, die Sakramente sind nur eingesetzt, um den Glauben zu nähren.
Dies wurde jedoch durch das Konzil von Trient verurteilt. Sess. VII, De
Sacramentis in genere, can. 5: Wenn jemand behauptet, die Sakramente
wären nur eingesetzt, um den Glauben zu nähren, der sei im Banne.
22. Auch vom Ursprung und vom Wesen der heiligen Schriften war
bereits die Rede. Nach den modernistischen Anschauungen könnte man sie
sehr gut als eine Sammlung von außergewöhnlichen und besonderen
Erfahrungen definieren, welche zwar nicht jeder alle Tage durchmacht,
jedoch in allen Religionen vorkommen. Auf diese Weise sprechen die
Modernisten von unserer Heiligen Schrift, vom Alten und vom Neuen
Testament. Sie sind jedoch so klug und fügen hinzu, daß auch eine
gegenwärtige Erfahrung ihren Gegenstand aus der Vergangenheit oder aus
der Zukunft entnehmen kann, je nachdem der Glaubende das Vergangene in
der Erinnerung, oder das Zukünftige durch Vorausnahme als gegenwärtig
erlebt. Dadurch wird deutlich, daß auch Historiker und Apokalyptiker zu
den heiligen Schriften gerechnet werden können. So redet allerdings Gott
in diesen Büchern durch den Gläubigen. Nach der modernistischen
Theologie jedoch nur durch die Immanenz und die vitale Permanenz. An
dieser Stelle drängt sich die Frage nach der Inspiration auf. Antwort:
Sie unterscheidet sich höchstens durch ihre Stärke von dem allgemeinen
Antrieb, welcher den Gläubigen drängt, seinen Glauben in Wort und
Schrift auszusprechen. Ähnliches finden wir bei der poetischen
Inspiration. Dadurch konnte der Dichter sagen: Es wohnt ein Gott in uns.
Von seinem Hauch wird die Begeisterung wach. Gerade so ist der Ursprung
der Schriftinspiration in Gott zu suchen. Nach den Modernisten findet
man nichts in der Heiligen Schrift, was nicht auf diese Weise inspiriert
wäre. Wenn man diese Meinung hört, sollte man sie für orthodoxer
halten, als bei so manchen neueren Autoren, die zum Beispiel sogenannte
stillschweigende Zitationen annehmen, und darauf die Inspiration
beschränken. Diese Worte sind allerdings nur Trug und Schein. Bei der
Beurteilung der Bibel nach den Prinzipien des Agnostizismus kann
natürlich von Einschränkungen der Inspiration die Rede sein, da es sich
doch um ein reines Menschenwerk handelt, von Menschen für Menschen
geschrieben, auch wenn es der Theologe im Sinne der Immanenz göttlich
nennen mag. So bleibt der Modernist bei einer allgemeinen Inspiration
der Heiligen Schrift. Von einer Inspiration im katholischen Sinne läßt
er allerdings nichts übrig.
23. Mehr ist über die Phantasien der modernistischen Schule in bezug
auf die Kirche zu sagen. Zunächst wird ihre Entstehung auf eine doppelte
Nötigung zurückgeführt. Zum einen auf den Drang, der sich in jedem
Gläubigen regt, vor allem dann, wenn er eine ursprüngliche und besondere
Erfahrung gemacht hat, um seinen Glauben anderen mitzuteilen. Zum
anderen, wenn der Glaube das Gemeingut mehrer geworden und das Bedürfnis
der Kollektivität entstanden ist, um sich zu einer Gemeinschaft
zusammenzuschließen und die gemeinsamen Güter zu schützen, zu vermehren
und zu verbreiten. Die Kirche ist also die Frucht des
Kollektivbewußtseins oder der Verbindung des Bewußtseins der einzelnen,
welche durch die vitale Permanenz von einem ersten Glaubenden abhängen.
Für den Katholiken ist dieser natürlich Christus. Ferner benötigt jede
Gemeinschaft eine Leitung durch eine Autorität, welche alle Mitglieder
dem gemeinschaftlichen Ziel entgegenführt und die verbindenden Momente
sorgsam pflegt. Bei einer religiösen Vereinigung sind das die Lehre und
der Kultus. Daher gibt es in der katholischen Kirche eine dreifache
Autorität: Die disziplinäre, die dogmatische und die kultische. Das
Wesen dieser Autorität ergibt sich aus ihrem Ursprung. Aus ihrem Wesen
bestimmen sich Rechte und Pflichten. Zu früheren Zeiten herrschte der
Irrtum, daß die Autorität von außen, und zwar direkt von Gott, in die
Kirche eingeführt wurde. Deshalb konnte man sie auch für autokratisch
halten. Diese Ansicht ist nun überwunden. Wie die Kirche aus dem
Kollektivbewußtsein hervorgeht, geht auch die Autorität vital aus der
Kirche hervor. Sowohl die Autorität, als auch die Kirche entspringen
also aus dem religiösen Bewußtsein und müssen sich deshalb demselben
unterordnen. Entzieht sie sich ihm, wird sie zur Tyrannei. Wir leben
jedoch in einer Zeit, in der das Freiheitsgefühl seinen Höhepunkt
erreicht hat. Im Staatswesen hat das öffentliche Bewußtsein das
Volksregiment eingeführt. Das Bewußtsein und das Leben sind im Menschen
einheitlich. Wenn also kein Krieg im innersten menschlichen Bewußtsein
entzündet und geschürt werden soll, muß die kirchliche Autorität
demokratische Formen annehmen. Dies muß um so mehr geschehen, da sonst
ihr Untergang besiegelt ist. Es wäre ein Wahnsinn, wenn man bei der
heutigen Entwicklung des Freiheitssinnes an reaktionäre Maßnahmen denken
würde. Ein gewaltsames Zurückdrängen und Einengen würde zu einer
Explosion führen, welche die Kirche und die Religion vernichtet. Die
Modernisten erwägen das wohl. Darum richtet sich ihr Streben danach,
Mittel und Wege zu finden, um die kirchliche Autorität mit der Freiheit
der Gläubigen auszusöhnen.
24. Nicht nur im eigenen Haus sind Elemente vorhanden, mit denen sich
die Kirche friedlich vertragen muß, sondern diese existieren auch
außerhalb. Die Kirche ist nicht alleine auf der Welt. Es existieren noch
andere Gemeinschaften, mit denen sie Beziehungen und Verkehr nicht
vermeiden kann. Daher sind auch die Rechte und Pflichten der Kirche
gegenüber den weltlichen Gemeinschaften zu bestimmen, und zwar aus dem
Wesen der Kirche selbst, natürlich wie es uns die Modernisten
definieren. Dabei werden die gleichen Regeln angewendet, welche uns
bereits bei der Behandlung von Glauben und Wissen begegnet sind. Wenn es
sich dort um den Gegenstand handelt, geht es nun um den Zweck. Wie wir
an dortiger Stelle den Glauben und das Wissen auf Grund ihres
Gegenstandes trennen mußten, sind auch Staat und Kirche durch den
eigentümlichen Zweck getrennt, den sie verfolgen, und zwar den
weltlichen und den geistlichen. Zu früherer Zeit durfte man das
Weltliche dem Geistlichen unterordnen. Man konnte von gemischten Fragen
reden, an denen die Kirche als Herrin und Königin beteiligt war. Man war
der Ansicht, daß die Kirche von Gott, dem Urheber der übernatürlichen
Ordnung, unmittelbar gegründet ist. Davon wollen allerdings Philosophie
und Geschichte nichts mehr wissen. Trennung von Kirche und Staat,
Scheidung zwischen Katholik und Staatsbürger – diese Vorgehensweise ist
notwendig geworden. Da jeder Katholik zugleich Staatsbürger ist, hat er
das Recht und die Pflicht, nach bestem Wissen das Wohl des Staates zu
erstreben, ohne Rücksicht auf die kirchliche Autorität und ihre Wünsche,
Räte und Vorschriften, sogar ohne Rücksicht auf ihre Mahnungen. Diesem
Mißbrauch der kirchlichen Gewalt sollte man sich mit aller
Entschiedenheit widersetzen, wenn sie dem Bürger unter irgendeinem
Vorwand sein Verhalten vorschreiben will. Die Quelle aller dieser
Aufstellungen, Ehrwürde Brüder, ist die Lehre, welche Unser Vorgänger,
Papst Pius VI., in der apostolischen Konstitution „Auctorem fidei“
bereits feierlich verurteilt hat. Prop. 2. Der Satz: Die Autorität ist
der Kirche von Gott gegeben, um sie den Hirten mitzuteilen, die ihre
Diener für das Heil der Seelen sind, so verstanden, als ob die Autorität
des kirchlichen Amtes und der kirchlichen Regierung von der
Gemeinschaft der Gläubigen auf die Hirten übertragen wird, ist
häretisch.“ Prop. 3. Ferner der Satz: Der römische Papst ist das
ministerielle Haupt, in dem Sinn verstanden, als ob der römische Papst
nicht von Christus in der Person des hl. Petrus die Amtsgewalt erhalten
hat, sondern von der Kirche, die er als Nachfolger Petri, als wahrer
Statthalter Christi und Haupt der ganzen Kirche in der ganzen Kirche
besitzt, ist häretisch. Rundschreiben vom 8. September 1907.
25. Die modernistische Schule begnügt sich nicht nur damit, Kirche
und Staat zu trennen. Der Glaube steht nach seinen phänomenalen
Elementen unter der Wissenschaft. In der gleichen Weise muß nach ihr in
weltlichen Dingen die Kirche unter dem Staat stehen. Vielleicht wird
dies noch nicht offen ausgedrückt, jedoch gibt es an dem Schluß kein
Vorbeikommen. Hat in den weltlichen Dingen der Staat alleine zu
bestimmen, so müssen – falls der Gläubige mit der inneren Betätigung
seiner Religion nicht zufrieden ist und damit auch nach außen
hervortreten will, zum Beispiel bei der Spendung und beim Empfang der
Sakramente – diese Akte notwendigerweise unter die Staatsgewalt fallen.
Wo bleibt in diesem Fall die kirchliche Autorität? Sie vermag sich nur
durch äußere Akte zu betätigen und ist damit in ihrer ganzen Ausdehnung
dem Staat unterstellt. Unter dem Eindruck dieser Logik wollen daher auch
manche liberale Protestanten jeden äußeren Kult und auch jeden äußeren
religiösen Verband abgeschafft wissen. Nach ihrer Aussage versuchen sie
die individuelle Religion einzuführen. Wenn die Modernisten noch nicht
offen so weit gehen, verlangen sie dennoch von der Kirche, daß sie sich
freiwillig ihren Bestrebungen annähert und sich den bürgerlichen Formen
anpaßt. Das genügt über die Disziplinargewalt.
Schlimmer und gefährlicher sind jedoch die Ansichten über die
dogmatische Gewalt oder Lehrgewalt. Über das Lehramt der Kirche liest
man folgende Erörterungen: Eine religiöse Gemeinschaft kann unmöglich zu
einer rechten Einheit gelangen, wenn das Bewußtsein der Mitglieder und
die dazu angewendete Formel nicht einheitlich sind. Diese doppelte
Einheit erfordert jedoch einen gewissen Gemeingeist, um die Formel zu
finden und zu prägen, welche dem Gemeinbewußtsein am besten entspricht.
Diese Gemeinschaft muß eine ausreichende Autorität besitzen, um die
Gemeinschaft auf seine Formel zu verpflichten. Die Vereinigung, oder
besser ausgedrückt, die „Verschmelzung“ dieses Geistes, welcher die
Formel findet, und die Macht, diese vorzuschreiben, bezeichnen die
Modernisten als das Wesen des kirchlichen Lehramtes. Das Lehramt wächst
demnach schließlich aus dem Bewußtsein eines jeden einzelnen und hat
auch seine offizielle Stellung zu Nutz und Frommen des Bewußtseins der
einzelnen erhalten. Darum ist es notwendigerweise vom Bewußtsein der
einzelnen abhängig und auf gemeinverständliche Formeln angewiesen. Es
wäre also ein reiner Mißbrauch der anvertrauten Gewalt, die als Hilfe
gedacht ist, wenn das Bewußtsein der einzelnen gehindert werden sollte,
die Anregungen, welche sie verspüren, frei auszusprechen, oder wenn die
Kritik daran gehindert werden sollte, das Dogma den notwendigen
Entwicklungen entgegenzuführen. Auch in der Anwendung der Gewalt sind
Schonung und Mäßigung nötig. Ein Buch, ohne Wissen des Verfassers zu
zensieren und zu verbieten sowie keine Erklärungen anzuhören und sich
auf keine Diskussion einzulassen, schmeckt gewiß stark nach Tyrannei.
Auch hier muß ein Mittelweg gefunden werden, um die Rechte der Autorität
und der Freiheit zu wahren. Bis dahin muß der Katholik zwar öffentlich
gegenüber der Autorität seine größte Achtung bezeigen, soll aber deshalb
nicht aufhören, seinem eigenen Genius zu folgen. Im allgemeinen wird
von der Kirche gefordert, auf jeglichen äußeren Prunk, der als zu
großartig ins Auge fällt, zu verzichten, da sich die Aufgabe der
Kirchengewalt nur auf das Geistliche bezieht. Dabei wird natürlich
vergessen, daß es die Religion zwar mit der Seele zu tun hat, sich
jedoch nicht alleine auf die Seele beschränken läßt, und daß die Ehre,
welche man der Autorität erweist, auf Christus zurückfällt, der sie
eingesetzt hat.
26. Ehrwürdige Brüder, damit wir nun die ganze Materie über den
Glauben und alles, was aus diesem hervorgeht, abschließen können, müssen
wir noch die Darlegungen der Lehren der Modernisten über diese beiden
Fragenkomplexe betrachten. Dabei gilt der allgemeine Grundsatz: In einer
Religion, die lebt, ist alles veränderlich – darum muß es sich ändern.
So kommen sie also auf die Entwicklung, sozusagen die Quintessenz ihrer
ganzen Lehre. Dogma, Kirche, religiöser Kult, Bücher, die wir als
heilige verehren, sogar der Glaube selbst, müssen – wenn wir sie nicht
alle für abgestorben erklären wollen – unter den Gesetzen der
Entwicklung stehen. Das ist überhaupt nicht verwunderlich, wenn man im
Auge behält, was die Modernisten über diese Punkte im einzelnen lehren.
Durch die Aufstellung des Gesetzes der Entwicklung haben sie sich selbst
bereits ihrem Wesen nach als Modernisten gekennzeichnet. Sprechen wir
zuerst vom Glauben. Nach ihren Ansichten war die Urform des Glaubens roh
und bei allen Menschen gleich, da er aus der Natur und dem Leben des
Menschen selbst hervorging. Die vitale Entwicklung brachte den
Fortschritt, selbstverständlich nicht dadurch, daß neue Formen von außen
hinzugetreten sind, sondern indem das religiöse Gefühl immer mehr zum
Bewußtsein durchdrang. Der Fortschritt selbst vollzog sich in zweifacher
Weise: Negativ – durch Ausscheidung aller äußeren Elemente, die etwas
aus der Familie oder aus dem Stamm herzurühren vermögen. Positiv – durch
die steigende intellektuelle und moralische Kultur des Menschen, die
einen volleren und klareren Gottesbegriff und somit ein reineres
religiöses Gefühl bringt.
Der Fortschritt des Glaubens beruht auf denselben Ursachen, die
vorhin zur Erklärung seines Ursprungs herangezogen wurden. Hinzu kommen
jedoch noch einige außerordentliche Männer – wir nennen sie Propheten,
und Christus war der größte von ihnen. In ihrem Leben und in ihren Reden
hatten sie etwas Geheimnisvolles an sich, das der Glaube der Gottheit
zuschreibt. Darüber hinaus hatten sie sich zu neuen, vorher nie
dagewesenen Erfahrungen emporgeschwungen, die dem religiösen Bedürfnis
ihrer Zeit entsprachen. Hauptsächlich kann der Fortschritt des Dogmas
nur dann stattfinden, wenn es gilt, die Glaubensschwierigkeiten zu
überwinden, Feinde zu besiegen und Widersprüche abzuweisen. Dazu kommt
noch ein beständiger Trieb, den Inhalt der Glaubensgeheimnisse tiefer zu
durchdringen. Um nur ein Beispiel zu nennen – so ist es mit Christus
geschehen. Was der Glaube an Ihm in irgendeinem Sinn als Göttliches
wahrnahm, ist langsam und allmählich so gewachsen, daß man Ihn
schließlich für Gott hielt. Zur Entwicklung des Kultus drängt vor allem
die Notwendigkeit, sich den Sitten und Überlieferungen der verschiedenen
Völker anzupassen, sowie das Bedürfnis, sich die Macht, welche gewisse
Handlungen durch die Gewohnheit erlangt hat, zunutze zu machen. Dies
stellt dann für die Kirche einen Antrieb zur Entwicklung dar, um sich
mit den geschichtlichen gegebenen Verhältnissen und mit den öffentlich
anerkannten weltlichen Regierungsformen abzufinden. Soviel über diese
einzelnen Punkte. Bevor wir weitergehen, weisen wir noch nachdrücklich
auf die Lehre von den Notwendigkeiten oder Bedürfnissen hin. Diese Lehre
muß daher die eigentliche Grundlage abgeben, nicht nur für die
obengenannten Ausführungen, sondern auch für die vielgerühmte sogenannte
historische Methode.
27. Verweilen wir jedoch noch etwas bei der Entwicklungslehre. Ferner
ist dabei zu bemerken, daß zwar die Bedürfnisse und Notwendigkeiten zur
Entwicklung drängen, die Entwicklung würde jedoch, wenn sie diesem
Antrieb alleine folgen wollte, leicht die Grenzen der Überlieferung
überschreiten, sich so von dem ursprünglichen belebenden Prinzip lösen
und dann eher zum Ruin als zum Fortschritt führen. Die Meinung des
Modernisten erfaßt man daher besser, wenn man die Entwicklung auf den
Widerstreit zweier Kräfte zurückführt – die eine Kraft drängt zum
Fortschritt, die andere Kraft dämpft konservativ. Das konservative
Element ist in der Kirche sehr stark vorhanden und liegt in der
Tradition begründet. Ihre Vertreterin ist die religiöse Autorität,
sowohl von rechts wegen, denn der Autorität kommt es zu, die
Überlieferung zu schützen, als auch tatsächlich, denn die Autorität
steht abseits von dem wechselnden Leben und wird von allem, was zum
Fortschritt treibt, kaum oder gar nicht berührt. Im Gegensatz dazu wirkt
die zum Fortschritt drängende und sich den tiefsten Bedürfnissen
anpassende Kraft im Bewußtsein der Laien. Damit sind besonders die Laien
gemeint, welche – wie man sagt – mitten im Strudel des Lebens stehen.
Hier, ehrwürdige Brüder, wird bereits die verderbliche Ansicht sichtbar,
welche das Laientum als Prinzip des Fortschritts in die Kirche
einschmuggeln möchte. Aus einem Kompromiß zwischen diesen beiden
Kräften, der konservativen und der fortschrittlichen, oder mit anderen
Worten ausgedrückt, zwischen der Autorität und dem Bewußtsein der
Laienwelt, entstehen Fortschritt und Veränderung. Das Bewußtsein der
Laien, zumindest einiger Laien, wirkt auf das Kollektivbewußtsein.
Dieses drückt auf die Autorität und zwingt sie, Kompromisse zu schließen
und diese dann auch zu halten. Man begreift daher leicht, warum die
Modernisten sich so sehr wundern, wenn sie zurechtgewiesen und gestraft
werden. Gerade das, was ihnen als Schuld angelastet wird, halten sie für
eine strenge Gewissenspflicht. Keiner kennt die Bedürfnisse des
religiösen Bewußtseins besser als sie, weil sie davon näher betroffen
sind, als die kirchliche Autorität. Alle diese Nöte drängen gerade auf
sie ein. Darum fühlen sie die Pflicht, öffentlich zu reden und zu
schreiben. Auch wenn die Autorität sie rügen mag, ihre Stütze ist das
Pflichtbewußtsein. Ihre innerste Erfahrung sagt ihnen, daß ihnen Lob
anstatt Tadel gebührt. Natürlich ist ihnen auch bekannt, daß ohne Kampf
kein Fortschritt möglich ist, und daß der Kampf seine Opfer fordert. Sie
mögen also selbst die Opfer sein, wie die Propheten und Christus. Auch
der Autorität grollen sie nicht, daß sie hart behandelt werden. Gerne
geben sie zu, daß die Autorität nur ihr Amt ausübt. Sie bedauern nur,
daß sie kein Gehör finden, weil so der Lauf des Geistes aufgehalten
wird. Die Stunde, das zaudern aufzugeben, wird schon schlagen. Man kann
zwar die Gesetze der Entwicklung aufhalten, durchbrechen kann man sie
nicht. So ziehen sie den begangenen Weg weiter, trotz aller
Zurückweisungen und Verurteilungen. Eine gekünstelte Ergebenheit muß
ihre unglaubliche Verwegenheit decken. Sie beugen sich zwar dem Schein
nach, Hand und Herz sind jedoch um so entschlossener bei dem begonnen
Werk. Wissentlich und willentlich entscheiden sie sich für diesen Weg.
Auf der einen Seite glauben sie, daß die Autorität zwar aufgerüttelt,
jedoch nicht vernichtet werden muß. Auf der anderen Seite sind sie der
Ansicht, ihr Platz wäre innerhalb der Kirche und würde dort auch
bleiben, um allmählich das allgemeine Bewußtsein umzustimmen. Dabei ist
es ihnen allerdings entgangen, wie hierin das Geständnis liegt, daß das
allgemeine Bewußtsein nicht mit ihnen übereinstimmt und sie also kein
Recht haben, sich als Interpreten desselben aufzuspielen.Nach Ansicht
der Modernisten und dank ihrer Tätigkeit darf es also, ehrwürdige
Brüder, nichts Unveränderliches in der Kirche geben. Allerdings wurde
diese Ansicht bereits von anderen vor ihnen vertreten. Von diesen hat
Unser Vorgänger Pius IX. geschrieben: Diese Widersacher der göttlichen
Offenbarung wissen den menschlichen Fortschritt nicht genug zu preisen
und möchten ihn in gotteslästerlicher Verwegenheit auch in die
katholische Religion einführen, als ob die Religion nicht Gottes-,
sondern Menschenwerk wäre, eine Erfindung der Philosophie, die mit
menschlichen Mitteln zur Vollkommenheit geführt werden könnte11.
Besonders die Lehre der Modernisten über Offenbarung und Dogma ist
nichts Neues. Pius IX. hat diese bereits im Syllabus verurteilt und
formuliert sie so: Die göttliche Offenbarung ist unvollkommen und
deshalb eines beständigen und unbeschränkten Fortschritts fähig, wie er
dem Fortschritt der menschlichen Vernunft entspricht12.
Noch feierlicher lauten die Worte des Vatikanischen Konzils: Die
Glaubenslehre, wie sie Gott geoffenbart hat, ist nicht dem menschlichen
Geist als eine Erfindung der Philosophie übergeben, die der Mensch mit
seinem Verstand weiter ausbilden soll, sondern als göttlicher Schatz der
Braut Christi anvertraut, zur treuen Bewahrung und unfehlbaren
Erklärung. Deshalb ist auch für die heiligen Dogmen immer der Sinn
festzuhalten, den die heilige Mutter, die Kirche, einmal erklärt hat.
Niemals darf man unter dem Schein oder dem Vorwand eines tieferen
Verständnisses davon abweichen13.
Die Entwicklung unserer Begriffe, auch in Glaubenssachen, wird dadurch
keineswegs behindert, sondern unterstützt und gefördert. Das
Vatikanische Konzil fährt deshalb fort: Es mögen also im Laufe der
Zeiten und Jahrhunderte Verständnis, Wissenschaft und Weisheit wachsen
und mächtig fortschreiten, sowohl bei den einzelnen, als auch bei der
Gesamtheit, in jedem Menschen und in der ganzen Kirche, aber innerhalb
des zuständigen Bereiches, im gleichen Dogma, im gleichen Sinn und in
der gleichen Ansicht.
28. Nachdem wir nun die Anhänger des Modernismus als Philosophen,
Gläubige und Theologen studiert haben, müssen wir nun den Blick darauf
richten, sofern sie Historiker, Kritiker, Apologeten und Reformatoren
sein wollen.
29. Einigen Modernisten scheint es große Sorge zu bereiten, daß man
sie bei ihren geschichtlichen Arbeiten als Philosophen ansehen könnte.
Sie erklären sogar, daß sie mit Philosophie nichts zu tun haben. Das ist
äußerst schlau. Man könnte sonst glauben, sie wären durch ihre
philosophischen Meinungen voreingenommen und deshalb nicht objektiv.
Trotzdem bleibt es wahr, daß ihre ganze Geschichte und Kritik nichts als
Philosophie ist. Ihre Schlußfolgerungen ergeben sich konsequent aus
ihren philosophischen Prinzipien. Um das zu erkennen, muß man nur die
Augen aufmachen. Die ersten drei Kanones dieser Historiker zeigen gerade
diese Prinzipien, die wir bereits oben bei ihren Philosophen
vorgefunden haben – der Agnostizismus, der Satz von der Verklärung der
Dinge durch den Glauben und der andere, den wir meinten, als Satz von
der Entstellung bezeichnen zu können. Beachten wir die Folgerungen aus
den einzelnen Sätzen. Nach dem Agnostizismus hat es die Geschichte,
genau wie die Wissenschaft, nur mit Phänomenen zu tun. Gott und jedes
Eingreifen Gottes in die menschliche Geschichte gehört also nur in das
Gebiet des Glaubens. Dort allein ist sein Bereich. Stößt man nun auf
etwas, das aus zwei Elementen zusammengesetzt ist, ein göttliches und
ein menschliches, zum Beispiel Christus, die Kirche, die Sakramente und
vieles andere, so ist eine reine Trennung in dem Sinne vorzunehmen, daß
man das Menschliche der Geschichte und das Göttliche dem Glauben
zuteilt. Dem Modernisten ist daher die Unterscheidung zwischen dem
Christus der Geschichte und dem Christus des Glaubens ganz geläufig,
ebenso zwischen der Kirche der Geschichte und der Kirche des Glaubens,
den Sakramenten der Geschichte und den Sakramenten des Glaubens, und in
ähnlicher Weise noch vieles andere. Jedoch auch das menschliche Element
selbst, das sich der Historiker aneignet, ist – wie es in den Dokumenten
auftritt – vom Glauben durch die Verklärung über die historischen
Bedingungen hinausgehoben. Deshalb sind die Zusätze, die der Glaube
gemacht hat, auszuscheiden und an den Glauben und die Geschichte des
Glaubens abzuliefern. Bei Christus zum Beispiel alles, was über die
menschlichen Verhältnisse, über die Natur, wie sie die Psychologie
darlegt, oder über die Verhältnisse, wie sie Ort und Zeit bestimmen, in
welchen er gelebt hat, hinausgeht. Nach dem dritten philosophischen
Prinzip müssen auch die Dinge noch gesichtet werden, die an sich nicht
über das geschichtliche Gebiet hinausgehen. Darüber lautet jedoch das
Urteil, daß es dies nicht nach der sogenannten Logik der Tatsachen geben
würde, oder die betreffenden Personen hätten nicht gestimmt. All das
ist auch hier zu eliminieren und gleichfalls dem Glauben zu überweisen.
Danach darf Christus das nicht gesagt haben, was die Fassungskraft des
zuhörenden Volkes überstieg. Alle Allegorien, die in seinen Reden
stehen, werden daher aus seiner wirklichen Geschichte gestrichen und dem
Glauben zugeteilt. Man möchte wohl das Gesetz kennen, wonach diese
Ausscheidung vorgenommen wird. Nach dem Charakter des Menschen, nach
seiner bürgerlichen Stellung, nach seiner Erziehung, nach der Gesamtheit
der Umstände einer jeden Tatsache – kurz, wenn man genauer hinsieht,
nach einer Norm, die schließlich rein subjektiv ist. Man versucht, sich
in die Rolle Christi selbst hineinzudenken und sie gleichsam
durchzuspielen. Was man selbst unter den gleichen Umständen getan hätte,
überträgt man ohne Ausnahme auf Christus. Schließlich behaupten sie a
priori und nach philosophischen Prinzipien, die sie wohl annehmen,
jedoch gar nicht zu kennen vorgeben, in ihrer sogenannten wirklichen
Geschichte, daß Christus nicht Gott ist und auch durchaus nichts
Göttliches getan hat. Als Mensch hat er jedoch das getan und gesagt, was
sie ihm zu tun und zu sagen erlauben, wenn sie sich in seine Zeiten
zurückversetzen.
30. In gleicher Weise wie die Geschichte von der Philosophie,
übernimmt die Kritik von der Geschichte ihre Schlußfolgerungen. Der
Kritiker teilt seine Quellen nach den Kennzeichen in zwei Gruppen ein,
die ihm vom Historiker vorgegeben werden. Was nach der dreifachen
Verstümmelung noch standgehalten hat, verweist er an die wirkliche
Geschichte. Der Rest geht an die Geschichte des Glaubens oder die innere
Geschichte. Diese beiden Arten von Geschichte werden scharf
unterschieden. Sehr wichtig dabei ist, daß die Geschichte des Glaubens
der wirklichen Geschichte als solche gegenübergestellt wird. Wie bereits
bemerkt, gibt es daher einen doppelten Christus – einen wirklichen und
einen anderen, der in Wirklichkeit nie existiert hat, sondern dem
Glauben angehört. Der eine hat an einem bestimmten Ort und zu einer
bestimmten Zeit gelebt. Der andere ist nur in den frommen Erwägungen des
Glaubens zu finden. Ein solcher ist zum Beispiel Christus, der im
Evangelium nach Johannes dargestellt wird. Dieses Evangelium ist nach
ihrer Ansicht nichts weiter, als eine fromme Betrachtung.
31. Der Einfluß der Philosophie auf die Geschichte hört an dieser
Stelle jedoch durchaus noch nicht auf. Wenn die Quellen in der
angegebenen Weise in zwei Gruppen unterteilt sind, so erscheint wiederum
der Philosoph mit seinem Lehrsatz von der vitalen Immanenz. Dabei
verlangt er, alles, was die Kirchengeschichte berichtet, soll durch
vitale Emanation erklärt werden. Für jede Art vitaler Emanation ist
jedoch die Ursache oder die Bedingung irgendeine Notwendigkeit oder ein
Bedürfnis. Daher muß man sich die Tatsache später als jene Notwendigkeit
denken, und sie ist später historisch notwendig. Was tut nun der
Historiker? Er geht nochmals seine Quellen durch, sowohl die, welche in
der Heiligen Schrift enthalten sind, als auch jene, welche er aus einer
anderen Richtung herbeigeschafft hat. Nach ihnen erstellt er eine Liste
der einzelnen Bedürfnisse, die sich auf das Dogma, den religiösen Kult
oder auf sonst etwas beziehen, wie sie sich jeweils nacheinander in der
Kirche geltend gemacht haben. Wenn die Liste fertiggestellt ist,
übergibt er sie dem Kritiker. Dieser greift dann nach den Quellen,
welche für die Geschichte des Glaubens bestimmt wurden und ordnet sie
nach den einzelnen Zeiträumen, so daß sie der gegebenen Liste
entsprechen. Dabei vergegenwärtigt er sich immer den Grundsatz, daß das
Bedürfnis der Tatsache, und diese der Erzählung vorangeht. Es kann daher
zuweilen vorkommen, daß einzelne Teile der Bibel, wie zum Beispiel
Briefe, selbst eine Tatsache sind, die ein Bedürfnis geschaffen haben.
Wie dem aber auch sei, es bleibt das Gesetz bestehen, daß sich das Alter
einer Quelle nicht auf eine andere Weise bestimmen läßt, als aus dem
Alter des Bedürfnisses, welches sich in der Kirche geregt hat. Außerdem
muß zwischen dem Anfang einer Tatsache und ihrer Entwicklung
unterschieden werden. Was an einem Tage entstehen kann, das kann nur im
Laufe der Zeit wachsen. Der Kritiker muß daher die bereits nach
Zeiträumen geordneten Quellen nochmals in zwei Gruppen aufteilen, um
zwischen dem Ursprung und dem zur Entwicklung gehörenden Gegenstand zu
unterscheiden. Diese erhalten dann wieder ihren Platz nach der
Zeitfolge.
32. Hierauf kommt der Philosoph von neuem an die Reihe. Er trägt dem
Historiker auf, seine Studien so einzurichten, wie es die Vorschriften
und Gesetze der Entwicklung verlangen. Der Historiker macht sich also
nochmals an die Untersuchung der Quellen. Mit Sorgfalt durchforscht er
alle Umstände und Verhältnisse, in denen sich die Kirche in den
verschiedenen Zeiten befunden hat, sowie die Wirkung ihres
Konservatismus, die inneren und äußeren Bedürfnisse, die zum Fortschritt
drängen, die Hindernisse, die sich entgegenstellen – mit einem Wort, er
durchforscht alles, was in irgendeiner Weise dazu beitragen könnte, um
festzustellen, wie sich die Gesetze der Entwicklung bewährt haben. Jetzt
endlich entwirft er sozusagen die äußeren Umrisse der
Entwicklungsgeschichte. Der Kritiker steht ihm dabei zur Seite und
richtet die übrigen Quellen her. Nun geht es an die Redaktion und bald
ist die Geschichte fertig. Wem, so fragen wir jetzt, ist diese
Geschichte zuzuschreiben? Dem Historiker oder dem Kritiker? Keinem von
beiden, sondern dem Philosophen. Alles wird a priori entschieden, und
zwar nach einem Apriorismus, der voller Häresien steckt. Es kann einem
um diese Leute leid tun, von dem der Apostel sagen würde: Eitel sind sie
geworden in ihren Gedanken … denn da sie sich für Weise ausgaben,
wurden sie zu Toren14.
Wenn sie aber dann der Kirche vorhalten, sie würde die Quellen
durcheinander werfen und diese so herrichten, daß sie ihr dienlich sind,
fordern sie doch den Unwillen heraus. Dadurch dichten sie der Kirche
an, was ihr Gewissen ihnen selbst laut vorwirft.
33. Aus der Verteilung und Anordnung der Quellen nach den
verschiedenen Zeiträumen ergibt sich von selbst, daß man die heiligen
Schriften nicht denjenigen zuschreiben darf, deren Namen sie tragen. Die
Modernisten behaupten deshalb durchweg ganz unbedenklich, daß diese
Schriften, besonders der Pentateuch und die drei ersten Evangelien,
allmählich aus einem kurzen ursprünglichen Bericht entstanden sind,
durch Zusätze, erklärende theologische oder allegorische Glossen oder
auch durch einfache Bindeglieder zwischen den verschiedenen Teilen. Kurz
und eindeutig ausgedrückt bedeutet dies, daß für die Heilige Schrift
eine vitale Entwicklung anzunehmen ist, entstanden aus der Entwicklung
des Glaubens und mit ihr gleichen Schritt haltend. Die Spuren dieser
Entwicklung erscheinen ihnen so deutlich, daß man fast deren Geschichte
schreiben könnte. Sie wird sogar wirklich geschrieben, und zwar mit
einer solchen Sicherheit, daß man glauben könnte, die Schreiber hätten
die Männer mit ihren eigenen Augen bei der Arbeit gesehen, welche zu den
verschiedenen Zeiten ihre Zusätze zu den biblischen Büchern gemacht
haben sollen. Zur Bestätigung ihrer Ergebnisse wird dann die Textkritik
zu Hilfe gerufen. Es wird versucht, Beweise zu finden, daß dieses oder
jenes Diktum oder Faktum nicht am rechten Platz steht, und noch mehr
Beweise dieser Art. Man könnte zu der Annahme geneigt sein, daß für sie
gewisse Typen von Erzählungen und Reden von vorneherein feststehen, nach
denen sich mit aller Sicherheit nachweisen läßt, was am rechten Platz
steht und was nicht. Wer möchte sich auf diese Art etwas von ihnen
beweisen lassen? Hört man jedoch ihre Reden über ihre biblizistischen
Studien, die es ihnen ermöglichten, alle diese Unstimmigkeiten in der
Heiligen Schrift herauszuheben, möchte man glauben, daß vor ihnen kaum
ein Mensch die Bibel studiert und es niemals eine Unzahl von Gelehrten
gegeben hat, die sich nach allen Richtungen durchgearbeitet haben –
Gelehrte, mit denen sie sich an Geist, Gelehrsamkeit und Heiligkeit des
Lebens nicht im entferntesten messen können. Diese großen Gelehrten
haben die heiligen Schriften niemals auch nur in irgendeinem Punkte
getadelt. Im Gegenteil, je tiefer sie in dieselben eindrangen, um so
wärmeren Dank haben sie Gott dem Herrn dargebracht, daß er sich
gewürdigt hat, so zu den Menschen zu reden. Leider standen unseren
Gelehrten bei ihrem Bibelstudium nicht dieselben Hilfsmittel zur Seite,
wie sie die Modernisten heute benutzen! Das bedeutet, sie begaben sich
nicht in die Gefolgschaft einer Philosophie, die mit der Leugnung Gottes
beginnt. Sie stellten sich auch nicht selbst als Maßstab für ihre
Urteile auf. Die Methode der Modernisten in historischen Fragen ist
hiermit eindeutig. An erster Stelle steht die Philosophie, ihr folgt die
Geschichte und daran schließen sich sowohl die innere Kritik, als auch
die Textkritik an. Da das oberste Prinzip den untergeordneten seinen
eigenen Geist mitteilt, kann offenbar diese Kritik keine reine Kritik
mehr sein, sondern verdient in vollem Maß den Namen einer agnostischen,
immanentistischen, evolutionistischen Kritik. Wer sie unterschreibt oder
anwendet, unterschreibt auch die Irrtümer, die in ihr enthalten sind,
und stellt sich damit der katholischen Lehre entgegen. Danach erscheint
es sehr verwunderlich, wie eine solche Kritik in der heutigen Zeit bei
Katholiken so viel Achtung genießen kann. Dafür gibt es einen doppelten
Grund. Zunächst finden wir die innige Verbindung, in der die Historiker
und Kritiker dieser Art über alle Schranken der Nationalität und
Religion hinweg miteinander stehen. Dann finden wir die
Aufdringlichkeit, mit der sie einstimmig alles als einen Fortschritt der
Wissenschaft ausposaunen, was irgendeiner von ihnen an die
Öffentlichkeit bringt. Kritisiert einer alleine eine derartig
ungeheuerliche Neuerung, dann sieht er sich einer geschlossenen Schar
gegenüber. Leugnet er sie, dann ist er ein Ignorant. Nimmt er sie an und
tritt dafür ein, kann er sich ihrer Anerkennung sicher sein. Viele
werden getäuscht, die sich bei genauerem Hinsehen entsetzt abwenden
würden. Die übermächtige Vorherrschaft des Irrtums und der vorschnelle
Beifall oberflächlicher Geister haben jedoch sozusagen eine verdorbene
Atmosphäre geschaffen, die überall eindringt und die Seuche verbreitet.
34. Doch lassen sie uns zur Apologetik übergeben. Auch diese hängt
bei den Modernisten in doppelter Weise von der Philosophie ab. Indirekt,
weil sie ihren Stoff aus der Geschichte nimmt, die, wie bereits
aufgezeigt, nach der Vorschrift der Philosophie geschrieben wurde.
Direkt, weil sie daraus ihre Grundsätze und Entscheidungen bezieht. Die
modernistische Schule verlangt daher ganz allgemein, daß die neue
Apologetik die Streitfragen über Religion durch historische und
psychologische Untersuchungen lösen muß. Die modernistischen Apologeten
erklären deshalb den Rationalisten gleich zu Beginn, daß sie die
Religion nicht aus der Heiligen Schrift oder aus den Geschichtsbüchern
verteidigen wollen, wie sie allgemein in der Kirche im Gebrauch sind,
gearbeitet nach der alten Methode, sondern aus der wirklichen
Geschichte, wie die modernen Regeln, die moderne Methode sie liefern.
Daraus spricht jedoch nicht etwa die Absicht, ad hominem zu
argumentieren, sondern sie sprechen aus ihrer eigenen Überzeugung
heraus, daß nur diese Geschichte die Wahrheit sagen würde. Mit aller
Zuversicht behaupten sie ihre Ehrlichkeit beim Schreiben. Sie sind für
die Rationalisten keine Unbekannten, da sie bereits mit ihnen unter
derselben Fahne gedient und dafür Anerkennung geerntet haben. Auf diese
Anerkennung, die ein guter Katholik verachten würde, tun sie sich etwas
zugute und halten sie dem Tadel der Kirche entgegen. Greifen wir einen
aus ihnen heraus und sehen wir, wie er seine Apologetik anfaßt. Er
stellt sich die Aufgabe, einen noch nicht Glaubenden dahin zu bringen,
daß er über die katholische Religion zur Erfahrung gelangt, die nach den
Modernisten die einzige Grundlage des Glaubens bildet. Es führt ein
doppelter Weg dorthin – ein objektiver und ein subjektiver Weg. Der
erste Weg findet seine Grundlage im Agnostizismus. Er läuft darauf
hinaus, zu zeigen, daß in der Religion, speziell in der katholischen
Religion, eine vitale Kraft liegt, die jeden vernünftigen Psychologen
und Historiker überzeugt, daß in ihrer Geschichte etwas Unbekanntes
verborgen ist. Zu diesem Zweck muß gezeigt werden, daß die katholische
Religion in ihrer heutigen Form die gleiche ist, wie sie von Christus
gestiftet wurde. Das bedeutet, daß sie nichts anderes darstellt, als die
fortschreitende Entfaltung des Keimes, den Christus gepflanzt hat.
Zuerst muß also die Beschaffenheit dieses Keimes bestimmt werden. Das
soll die folgende Formel leisten: Christus verkündete die Ankunft eines
Gottesreiches, welches in naher Zukunft errichtet werden soll. Sich
selbst verkündete er als dessen künftigen Messias, also als
gottgesandten Stifter und Organisator. Hierauf muß gezeigt werden, wie
sich dieser Keim allmählich, stets immanent und permanent in der
katholischen Religion nach der Geschichte entwickelt und den jeweiligen
Umständen angepaßt hat. Dies geschah dadurch, daß er sich aus denselben
alle doktrinären, kultischen und kirchlichen Formen, die ihm dienen
konnten, vital aneignete und daneben alle Hindernisse, die sich in den
Weg stellten, überwand, die Gegner niederwarf und alle Verfolgungen und
Kämpfe überdauerte. Ist das alles aufgezeigt – Hindernisse, Gegner,
Verfolgungen, Kämpfe – und ist ebenso ein derartiges Leben, eine solche
Fruchtbarkeit der Kirche dargelegt, daß zwar einerseits die Gesetze der
Entwicklung in der Geschichte dieser Kirche nicht durchbrochen scheinen,
sie jedoch andererseits auch zu einer vollen Erklärung ihrer Geschichte
nicht ausreichen, dann tritt das Unbekannte eindeutig hervor. Es drängt
sich praktisch von selbst auf. Soweit der Apologet. Eine Tatsache wurde
bei dieser Schlußfolgerung jedoch übersehen: Die Bestimmung des
ursprünglichen Keimes rührt ganz vom Apriorismus des
agnostisch-evolutionistischen Philosophen her. Dieser Keim wird von
ihnen daher willkürlich so umschrieben, wie es ihrer Sache dient.
35. Während nun die neuen Apologeten mit solchen Argumenten die
katholische Religion zu stützen und zu empfehlen versuchen, geben sie
gerne zu, daß sich auch manches darin findet, was Anstoß erregen kann.
Mit heimlicher Freude erklären sie sogar, daß sie auch im Dogma Irrtümer
und Widersprüche finden. Dabei fügen sie jedoch hinzu, daß sich dies
nicht nur entschuldigen läßt, sondern – merkwürdigerweise – würde dies
so ganz recht geschehen. Nach ihnen findet sich in ähnlicher Weise auch
vieles in der Heiligen Schrift, was wissenschaftliche oder
geschichtliche Irrtümer enthält. Aber, sie sagen, es handelt sich dort
nicht um Wissenschaft oder Geschichte, sondern um Religion und Moral.
Wissenschaft und Geschichte sind dort nur die Hüllen, unter denen sich
die religiösen und sittlichen Erfahrungen leichter unter dem Volk
verbreiten lassen. Da das Volk es nicht besser wußte, hätte ihm eine
höhere Stufe der Wissenschaft und Geschichte nur geschadet anstatt
genutzt. Übrigens haben, nach ihrer Meinung, die heiligen Schriften
wegen ihrer religiösen Natur ihr Leben notwendig in sich. Auch das Leben
hat seine Wahrheit und seine Logik, die sich allerdings von der
rationalen Wahrheit und Logik unterscheidet und einer ganz anderen
Ordnung angehört – die Wahrheit der Relativität und der Proportion zu
dem Milieu, in dem man lebt, und zu dem Zweck, für den man lebt.
Schließlich gehen sie soweit, ohne Rückhalt zu behaupten, daß alles, was
sich lebendig entwickelt, auch wahr und recht ist. Wir, ehrwürdige
Brüder, kennen nur die eine Wahrheit und halten an den heiligen Büchern
fest, weil sie auf Eingebung des Heiligen Geistes geschrieben wurden und
Gott zum Urheber haben15.
Für Uns würde das nichts anderes bedeuten, als Gott selbst aus
Rücksicht auf Interesse und Nutzen lügen zu lassen. Dann müssen Wir mit
Augustinus sagen: Läßt man einmal bei dieser höchsten Autorität eine
kleine politische Lüge zu, dann wird von diesen Büchern kein Stück mehr
übrig bleiben, das man nicht, wenn es dem einen oder anderen schwer zu
beobachten oder schwer zu glauben scheint, nach derselben schlimmen
Regel mit einer Absicht oder Rücksicht des trügerischen Verfassers
erklären könnte16.
Dann muß es soweit kommen, wie derselbe heilige Lehrer sagt: Jeder wird
von ihnen (den heiligen Schriften) glauben, was er will, und nicht
glauben, was er nicht will. Unsere Apologeten gehen jedoch unbeirrt
ihren Weg. Sie geben weiterhin zu, daß in der Heiligen Schrift an der
einen oder anderen Stelle zum Erweis irgendeiner Lehre Erwägungen
vorgetragen werden, die jeder vernünftigen Grundlage entbehren, zum
Beispiel wenn man sich auf Weissagungen stützt. Auch das verteidigen sie
als einen oratorischen Kunstgriff, der durch das Leben gerechtfertigt
erscheint. Kann man noch weiter gehen? Sie geben zu und behaupten sogar,
daß Christus sich offenbar geirrt hat, als er die Zeit der Ankunft des
Gottesreiches angab. Darüber braucht man sich nach ihrer Meinung gar
nicht zu wundern, denn auch er stand unter den Gesetzen des Lebens! Sie
wimmeln sogar von offenkundigen Widersprüchen. Allein die Logik des
Lebens läßt solche zu. Darüber hinaus ist das nicht gegen die
symbolische Wahrheit. Bei den Dogmen handelt es sich doch um das
Unendliche, das unendlich viele Wahrheiten hat. Schließlich vertiefen
sie sich im Eifer, womit sie das alles verteidigen, so daß sie
behaupten, man kann das Unendliche nicht besser ehren, als wenn man
Widersprechendes von ihm aussagt. Wenn also selbst der Widerspruch
erlaubt ist, was ist dann nicht mehr erlaubt?
36. Wer noch keinen Glauben hat, der kann nicht nur durch objektive,
sondern auch durch subjektive Beweise für den Glauben gewonnen werden.
Die modernistischen Apologeten greifen zu diesem Zweck auf die Lehre von
der Immanenz zurück. Dabei geben sie sich alle Mühe, den Menschen zu
überzeugen, daß in ihm selbst, in den tiefsten Tiefen seiner Natur und
seines Lebens, das Verlangen und das Bedürfnis nach einer Art Religion
verborgen liegt – nicht nach irgendeiner Religion, sondern gerade nach
einer solchen, wie es die katholische Religion darstellt. Diese werden
geradezu von der vollkommenen Entwicklung des Lebens postuliert. Wir
sehen Uns gezwungen, auch hier wieder Unser tiefes Bedauern
auszusprechen, daß so manche Katholiken, welche die Lehre von der
Immanenz als Lehre verwerfen, sie dennoch für die Apologetik verwenden.
Dabei verfahren sie so unvorsichtig, daß es den Anschein hat, sie
hielten eine Erhebung der menschlichen Natur zur übernatürlichen Ordnung
nicht nur für möglich und entsprechend, was die katholischen Apologeten
unter Einhaltung der nötigen Schranken von jeher bewiesen haben,
sondern dieselbe ist ihnen im eigentlichen Sinn eine Forderung der
Natur. Um genau zu sein muß man allerdings sagen, daß dieses Bedürfnis
nach der katholischen Religion nur von den Modernisten herangezogen
wird, die gemäßigter sein wollen. Die anderen, die man als Integralisten
bezeichnen könnte, wollen dem noch nicht Glaubenden den Keim, der sich
im Bewußtsein Christi fand und von ihm auf die Menschen fortgepflanzt
wurde, als in seinem eigenen Inneren verborgen aufzeigen. Ehrwürdige
Brüder, man sieht eindeutig, daß die kurz beschriebene apologetische
Methode der Modernisten vollkommen mit ihren sonstigen Lehren
übereinstimmt. Die Methode und das Lehren sind voll von Irrtümern, nicht
zur Erbauung angetan, sondern zur Zerstörung, nicht um andere zu
Katholiken zu machen, sondern um die Katholiken selbst in die Häresien
zu stürzen, sogar um die gesamte Religion vollständig zu vernichten.
37. Nur wenig kann über den Modernisten als Reformator beigefügt
werden. Das bisher Gesagte ist ausreichend, um die schrankenlose und
brennende Neuerungssucht dieser Leute aufzuzeigen. Dieselbe richtet sich
auf alles, was die Katholiken besitzen. Die Philosophie soll erneuert
werden, besonders in den Klerikalseminarien. Die scholastische
Philosophie gehört in die Geschichte der Philosophie zu den übrigen
überwundenen Systemen. Dafür soll den jungen Leuten die einzig richtige
und unserer Zeit entsprechende moderne Philosophie vorgetragen werden.
Zur Erneuerung der sogenannten spekulativen Theologie soll die moderne
Philosophie als Grundlage dienen. Dagegen wollen sie die positive
Theologie hauptsächlich auf die Dogmengeschichte gestützt sehen. Auch
die Geschichte soll nach ihrer Methode und nach modernen Regeln
geschrieben und gelehrt werden. Die Dogmen und ihre Entwicklung müssen
mit der Wissenschaft und der Geschichte versöhnt werden. Innerhalb der
Katechese sollen die katechetischen Schriften nur die Dogmen behandeln,
die modernisiert sind und der Fassungskraft des Volkes entsprechen. Bei
dem religiösen Kult sind die äußeren Observanzen, also die herkömmliche
Befolgung der eingeführten Regeln, einzuschränken. Es ist dafür zu
sorgen, daß sie nicht noch zunehmen. Andere allerdings, denen der
Symbolismus mehr zusagt, sind in diesem Bereich gnädiger. Das kirchliche
Regiment soll in jeder Beziehung, besonders nach der disziplinären und
dogmatischen Seite, reformiert werden. Es hat sich innerlich und
äußerlich ihrem modernen Bewußtsein, das ganz und gar zur Demokratie
neigt, anzupassen. Der niedere Klerus und ebenso die Laienwelt müssen
deshalb ihren Anteil am Regiment, also am Mitspracherecht, erhalten. Die
über alle Maßen zentralisierte Autorität muß dezentralisiert werden.
Die römischen Kongregationen für die verschiedenen kirchlichen Bereiche,
besonders die Bereiche des heiligen Offiziums und des Index, müssen
gleichfalls geändert werden. Dies betrifft auch die Haltung der
Kirchenbehörde in politischen und sozialen Fragen. Sie soll sich nicht
in bürgerliche Verhältnisse einmischen, sondern sich ihnen anpassen, um
sie so mit ihrem Geiste zu durchdringen. Innerhalb der Moral eignet man
sich den Grundsatz des Amerikanismus an. Dabei gehen die aktiven
Tugenden den passiven voran. Ihre Übung muß vor den anderen gefördert
werden. Vom Klerus verlangt man Demut und Armut, wie dies in der Vorzeit
herrschte. Dabei soll er in Tat und Gesinnung den modernistischen Ideen
folgen. Es gibt sogar solche, die als gelehrige Schüler der
Protestanten wünschen, den Zölibat des Priesters aufzuheben. In der
Kirche bleibt nichts übrig, das nicht reformiert werden müßte, und zwar
nach ihrem Rezept.
38. Ehrwürdige Brüder, vielleicht könnte man glauben, Wir hätten Uns
doch zu lange bei der Darlegung der modernistischen Lehre aufgehalten.
Dies war jedoch durchaus notwendig. Auf der einen Seite, um Uns nicht,
wie schon oft geschehen, von ihnen sagen zu lassen, Wir würden ihre
Ansichten nicht kennen. Auf der anderen Seite wollten Wir aufzeigen, daß
es sich beim Modernismus nicht um vage und unzusammenhängende Ansichten
handelt, sondern um ein einheitliches und geschlossenes System, bei dem
sich aus einer einzelnen Annahme notwendigerweise alles andere ergibt.
Unsere Auseinandersetzung mußte daher notwendigerweise lehrhaft werden.
Barbarismen, also grobe Sprachfehler, ließen sich zuweilen nicht
vermeiden, da sie von den Modernisten gebraucht werden. Überblickt man
nun das ganze System, so werden Wir es gewiß als eine Zusammenfassung
aller Häresien bezeichnen dürfen. Hätte sich jemand zur Aufgabe
gestellt, die Quintessenz aller Glaubensirrtümer, die es je gegeben hat,
zusammenzutragen, so hätte er es nicht besser machen können, als es die
Modernisten getan haben. Sie sind sogar weiter gegangen als alle und
haben, wie bereits bemerkt, nicht nur die katholische, sondern die
gesamte Religion vollständig vernichtet. Dafür erhielten sie den Beifall
der Nationalisten, die selbst erklären: Wenn sie offen und frei reden
wollen, hätten sie keine tatkräftigeren Helfer finden können, als die
Modernisten.
39. Betrachten wir, ehrwürdige Brüder, nochmals die verderbliche
Lehre des Agnostizismus. Für den menschlichen Verstand ist durch diese
Lehre jeder Weg zu Gott versperrt. Man glaubt, dafür einen besseren Weg
im religiösen Gefühl und in der Aktion gefunden zu haben. Doch das ist
selbstverständlich nicht richtig. Das Gefühl reagiert nur auf die
Wirkung der Dinge, die der Verstand oder der äußere Sinn dem Geist
vermittelt. Läßt man den Verstand beiseite, so wird der Mensch den
äußeren Reizen, zu denen er sowieso geneigt ist, nur um so eher folgen.
Es ist deshalb verkehrt, da alle Phantasien über das religiöse Gefühl
doch den gesunden Menschenverstand nicht irre machen können. Der gesunde
Menschenverstand sagt, daß jede Gemütserregung und jedes
Eingenommensein keine Hilfe, sondern ein Hindernis bei der Erforschung
der Wahrheit darstellt, natürlich der wirklichen Wahrheit. Die
subjektive Wahrheit, die Frucht des inneren Gefühls und der Aktion, ist
reine Spielerei, die dem Menschen nicht helfen kann. Ihm kommt es vor
allem darauf an, ob es außer ihm einen Gott gibt, in dessen Hände er
einst fallen wird oder nicht. Man ruft bei dem großen Werk auch die
Erfahrung zu Hilfe. Was soll sie über das religiöse Gefühl hinaus
bieten? Gar nichts! Sie kann nur das Gefühl lebhafter machen und so eine
um so festere Überzeugung von der Wahrheit seines Gegenstandes
hervorrufen. Das Gefühl hört jedoch deshalb nicht auf, Gefühl zu sein.
Seine Natur läßt sich nicht ändern. Ohne die Leitung des Verstandes
bleibt es jeder Täuschung ausgesetzt. Auch die Wirkung der Erfahrung
kann es in seiner Eigenart nur stärken und fördern. Ein lebhafteres
Gefühl ist darum nur um so mehr Gefühl. Wenn es sich jedoch hier,
ehrwürdige Brüder, nur um das religiöse Gefühl und die darauf beruhende
Erfahrung handelt, so ist Euch bekannt, welche Vorsicht auf diesem
Gebiet notwendig ist und wie viel Wissen benötigt wird, um Vorsicht
walten zu lassen. Dies ist Euch aus der Seelenführung bekannt, besonders
bei starken Gefühlsmenschen. Ihr kennt dies auch aus Eurer Vertrautheit
mit der aszetischen Litteratur, die von den Modernisten allerdings
vollständig verachtet wird. Diese zeigt jedoch eine viel solidere
Doktrin und eine schärfere Beobachtungsgabe, als die, deren sich die
Modernisten rühmen. Es erscheint Uns eine Torheit oder doch eine höchste
Unklugheit zu sein, ohne Untersuchungen solche Erfahrungen, wie sie die
Modernisten verbreiten, als wahr hinzunehmen. Im Vorbeigehen möchte man
fragen: Wenn diese Erfahrungen so wichtig und so zuverlässig sind,
warum sollte es dann nicht ebensoviel Gültigkeit besitzen, wie wenn
Tausende Katholiken ihre Erfahrung dahingehend aussprechen, daß die
Modernisten sich auf einem Irrweg befinden? Soll diese Erfahrung allein
falsch und trügerisch sein? Und doch hält der größere Teil der
Menschheit daran fest, und wird immer daran festhalten, daß man nur
durch das Gefühl und nur durch die Erfahrung, ohne Leitung der Vernunft,
nie zur Erkenntnis Gottes gelangen kann. Im Endeffekt bleibt wieder
nichts als Atheismus und Religionslosigkeit übrig. Auch von ihrer Lehre
über den Symbolismus dürfen sich die Modernisten nichts Besseres
versprechen. Wenn alle Verstandeselemente, nach ihrer Meinung, nur
Symbole Gottes sind, sollte dann nicht vielleicht auch der Begriff von
Gott und einer göttlichen Persönlichkeit ein Symbol sein? Wenn ja, so
darf man wohl an der Persönlichkeit Gottes zweifeln. Dem Pantheismus
steht dann Tür und Tor offen. Zu demselben Ergebnis, und zwar zum
reinsten Pantheismus, führt auch die Lehre von der göttlichen Immanenz.
Wir müssen daher fragen, ob eine solche Immanenz zwischen Gott und dem
Menschen trennt oder nicht. Wenn ja, welcher Unterschied besteht dann in
der katholischen Lehre, und warum darf man dann die Lehre von der
äußeren Offenbarung verwerfen? Wenn nein, so ist der Pantheismus da. Nun
will aber dies die modernistische Immanenz, die offen zugibt, daß das
Bewußtseinsphänomen vom Menschen als Menschen ausgeht. Also kommt man
mit Recht zu der Schlußfolgerung, daß Gott und Mensch ein und dasselbe
sind – also Pantheismus. Auch die Trennung von Glauben und Wissen, die
sie proklamieren, läßt keine andere Schlußfolgerung zu. Den Gegenstand
des Wissens sehen sie in der Realität des Erkennbaren, und den des
Glaubens in der Realität des Unerkennbaren. Die Unerkennbarkeit rührt
daher, daß zwischen dem dargebotenen Gegenstand und dem Verstand keine
Proportion besteht. Die fehlende Proportion kann jedoch nie, auch nicht
nach der Lehre des Modernismus, ersetzt werden. Das Unerkennbare wird
daher sowohl dem Gläubigen, als auch dem Philosophen ewig unerkennbar
bleiben. Gibt es also doch eine Religion, so ist ihre Realität
unerkennbar. Dann ist jedoch nicht einzusehen, warum die Realität nicht
auch eine Weltseele sein könnte, wie dies manche Rationalisten annehmen.
Das ist noch nicht genug, um mehr als deutlich zu zeigen, wie alle Wege
des Modernismus zum Atheismus und zur Vernichtung der gesamten Religion
führen. Der Irrtum des Protestantismus war der erste Schritt, es folgt
der Modernismus, um schließlich im Atheismus zu enden.
40. Um den Modernismus noch besser kennenzulernen, und für eine
derartig schwere Wunde die am besten geeigneten Heilmittel zu suchen,
ist es angebracht, ehrwürdige Brüder, nunmehr auch den Ursachen etwas
nachzugehen, welche das Übel verschuldet oder verschlimmert haben.
Zweifellos liegt seine nächste und unmittelbare Ursache in einem Irrtum
des Verstandes. Zwei entferntere Ursachen erkennen wir in der Neugierde
und im Stolz. Wenn der neugierige Wissensdrang nicht weise gemäßigt
wird, ist dies alleine schon ausreichend, um alle möglichen Irrtümer zu
erklären. Unser Vorgänger, Gregor XVI., schrieb daher mit Recht17:
Es ist tief traurig, zu welchen Torheiten sich die menschliche Vernunft
verirren kann, wenn man Neuerungen sucht und gegen die Mahnung des
Apostels den Sinn höher trägt, als es sich gebührt, wenn man in
übermäßigem Selbstvertrauen die Wahrheit außerhalb der katholischen
Kirche zu suchen glaubt, während man sie in ihr ohne den geringsten
Staub des Irrtums finden kann. Der Stolz hat jedoch in einem weit
höheren Grad die Wirkung, den Geist zu verblenden und in den Irrtum zu
führen. Dieser ist sozusagen beim Modernismus zu Hause. Von allen Seiten
strömt ihm dort Nahrung zu und nimmt ihn in allen möglichen Formen an.
Es ist Stolz, wenn sie in einem verwegenen Selbstgefühl die eigene
Person als Norm für alles betrachten und als solche ausgeben. Es ist
Stolz, wenn sie prunken, als besäßen sie alleine alle Weisheiten, und
sich dadurch zu den aufgeblasenen Worten hinreißen lassen: Wir sind
nicht wie die anderen Menschen! Um nicht mit anderen auf eine Stufe
gestellt zu werden, greifen sie nach allem, was sich neu nennt, und
ersinnen die größten Ungereimtheiten. Es ist Stolz, wenn sie jegliche
Unterwerfung ablehnen und verlangen, daß sich die Autorität mit der
Freiheit abfinden muß. Es ist Stolz, wenn sie an die Reform anderer
denken und dabei sich selbst vergessen, wenn sie keinen Stand und kein
Amt, auch nicht das höchste, achten. Der Stolz ist mit Gewißheit der
kürzeste und sicherste Weg zum Modernismus. Wenn ein katholischer Laie,
oder auch wenn ein Priester die christliche Lebensregel vergißt, wonach
wir uns selbst verleugnen müssen, um Christus nachfolgen zu können, wenn
er den Stolz nicht aus seinem Herzen reißt, dann ist er vor allen
anderen für die Annahme der modernistischen Irrtümer bereit. Es muß
deshalb, ehrwürdige Brüder, Eure erste Aufgabe sein, diesen stolzen
Menschen entgegenzutreten, sie in den unbedeutendsten und
unscheinbarsten Ämtern zu beschäftigen, um sie desto tiefer
herabzudrücken, je höher sie sich erheben, damit sie in ihrer niedrigen
Stellung weniger Schaden anzurichten vermögen. Eure persönliche Aufgabe
muß sodann sein, durch die Leiter Eurer Seminarien die
Priesterkandidaten sorgfältig zu prüfen. Für den Fall, daß Ihr stolze
Menschen darunter findet, müßt Ihr diese unbarmherzig von den heiligen
Weihen zurückweisen. Wäre das nur immer mit der nötigen Sorgfalt und
Festigkeit geschehen!
41. Gehen wir nun von den moralischen Ursachen zu den Ursachen über,
die im Verstand liegen. Als erstes zeigt sich uns die hauptsächlichste
Ursache der Unwissenheit. Alle Modernisten ohne Ausnahme, die Lehrer in
der Kirche sein und heißen wollen, und mit lauter Stimme die moderne
Philosophie preisen und die scholastische verachten, konnten sich nur
deshalb von ihrem falschen Schein verleiten lassen und sich zu ihr
bekennen, weil sie bei völliger Unkenntnis der Scholastik gar keine
Beweismittel in den Händen hielten, um die Begriffsverwirrung zu steuern
und die Sophismen zurückzuweisen. Aus der Verbindung der falschen
Philosophie mit dem Glauben ist dann ihr System mit allen seinen groben
Irrtümern gewachsen.
42. Würde doch nur auf seine Verbreitung weniger Eifer und Sorge
verwandt! Dagegen ist ihre Rührigkeit groß. Unermüdlich verrichten sie
ihre Arbeit, daß es einem wirklich leid tut, so viele Kräfte mißbraucht
zu sehen, welche die Kirche verderben, die bei richtig angewendetem
Gebrauch ihre beste Hilfe sein könnte. Sie benutzen ein doppeltes
Vorgehen, um die Leute zu überrumpeln. Zunächst versuchen sie, jedes
Hindernis ihrer Ziele auszuräumen, dann raffen sie alles mit dem größten
Eifer zusammen und wenden unermüdlich und unverdrossen jedes Mittel an,
das ihnen in irgendeiner Form eine Hilfe sein kann. Vor allem sind es
drei Dinge, von denen ihnen bekannt ist, daß sie ihren Bestrebungen
entgegengesetzt sind: Die scholastische Methode in der Philosophie, die
Autorität und die Tradition der Väter sowie das kirchliche Lehramt.
Diesen gilt ihr verbissenster Kampf. Die scholastische Philosophie und
Theologie wird von ihnen darum durchweg verhöhnt und verachtet. Mag das
nun aus Unwissenheit, Furcht oder wohl richtiger aus beiden Gründen
geschehen. Es steht zumindest fest: Neuerungssucht ist immer mit
Abneigung gegen die Scholastik verbunden. Es gibt kein sichereres
Zeichen für eine beginnende Hinneigung zu den modernistischen Lehren,
als nur der Beginn, Widerwillen gegen die scholastische Methode zu
empfinden. Die Modernisten und ihre Freunde sollten an die Verurteilung
des Satzes durch Pius IX. denken18:
Die Methode und die Prinzipien, nach denen die alten Lehrer der
Scholastik die Theologie betrieben haben, passen nicht zu den
Bedürfnissen unserer Zeit und zum Fortschritt der Wissenschaften. In
schlauer Weise versuchen sie, die Tradition nach ihrer Bedeutung und
nach ihrem Wesen zu verdrehen, um ihr dadurch jegliches Gewicht zu
nehmen. Für die Katholiken wird jedoch die Entscheidung des zweiten
Konzils von Nicäa stets seine Geltung behalten. Danach werden diejenigen
verurteilt, die es wagen … nach dem Beispiel verworfener Häretiker, die
kirchlichen Überlieferungen zu verachten und irgendwelche Neuerungen
auszusinnen … oder in bösartiger List etwas zu erdenken, um ein Stück
der rechtmäßigen Überlieferung der katholischen Kirche zu Fall zu
bringen. Ebenso behält das Bekenntnis des vierten Konzils von
Konstantinopel seine Gültigkeit: Wir bekennen also, daß wir die
Vorschriften halten und bewahren wollen, welche zum einen Teil von den
großen heiligen Aposteln, zum anderen Teil von den allgemeinen sowie den
besonderen Konzilien der Rechtgläubigen oder auch von irgendeinem
gottbegnadeten Vater oder Lehrer der heiligen katholischen und
apostolischen Kirche überliefert worden sind. Darum wollten auch die
Päpste, Pius IV. und Pius IX., dem Glaubensbekenntnis beigefügt wissen:
Die apostolischen und kirchlichen Überlieferungen und die übrigen
Gewohnheiten und Verordnungen dieser Kirche nehme ich fest und freudig
an. Die Modernisten denken auch nicht anders über die Überlieferung der
heiligen Kirchenväter. Mit aller Kühnheit stellen sie diese dem Volk
zwar höchst verehrungswürdig dar, beschuldigen sie aber in kritischen
und historischen Fragen der gröbsten Unwissenheit, die sich nur mit der
Zeit entschuldigen läßt, in der sie gelebt haben. Schließlich versuchen
sie, die Autorität des kirchlichen Lehramtes mit aller Gewalt
einzuschränken und herabzudrücken, indem sie auf der einen Seite seinen
Ursprung, sein Wesen und seine Rechte in frevelhafter Weise verkehren
und auf der anderen Seite die Verleumdungen der Gegner gegen dieses ohne
Scheu wiederholen. Über die Modernisten läßt sich sagen, was Unser
Vorgänger bereits in tiefstem Schmerz geschrieben hat: Um die mystische
Braut Christi des wahren Lichtes der Verachtung und dem Haß
preiszugeben, haben die Kinder der Finsternis sich angewöhnt, ihr
öffentlich wahnwitzige Verleumdungen entgegenzuschleudern, indem sie den
Sinn und die Bedeutung der Tatsache sowie auch die Worte verdrehen, sie
eine Freundin der Finsternis, eine Förderin der Unwissenheit und eine
Feindin der Klarheit und des Fortschrittes der Wissenschaften nennen19.
Bei dieser Lage der Dinge ist es nicht verwunderlich, ehrwürdige
Brüder, wenn die Modernisten den Katholiken, die entschieden für die
Kirche eintreten, ihren ganzen Groll und Unwillen fühlen lassen. Ihnen
wird keine Art von Beleidigungen erspart. Ständig wiederholen sie den
Vorwurf der Unwissenheit und Hartnäckigkeit. Wenn ihnen die
Gelehrsamkeit und Schlagfertigkeit eines Gegners Respekt einflößt, so
schweigen sie wie auf Verabredung und versuchen mit dieser Haltung die
Antwort wirkungslos zu machen. Katholiken auf diese Art zu behandeln ist
um so mißgünstiger, als sie ihre eigenen Parteigänger zur gleichen Zeit
mit maßlosen, nicht enden wollenden Lobsprüchen überschütten, und deren
Bücher, die von Anfang bis zum Ende mit Neuerungen gefüllt sind, mit
lautem Beifall begrüßen und bestaunen. Je kühner jemand das
Althergebrachte umstößt, die Überlieferung und die kirchliche Lehre von
sich weist, desto gelehrter gilt er. Wenn schließlich jemand die
kirchliche Verurteilung getroffen hat, so wird er nicht nur, zum
Entsetzen aller guten Katholiken, von der ganzen Schar laut und
öffentlich gelobt, sondern fast als Märtyrer der Wahrheit verehrt. Die
jungen Leute lassen sich schließlich von dem ganzen Lärm dieser Lob- und
Schmähreden verwirren und verführen. Da sie nicht als Ignoranten gelten
wollen, streben sie nach dem Ruf der Gelehrsamkeit. Gedrängt von ihrer
Neugierde und ihrem Stolz lassen sie sich nur zu oft fangen und
schließen sich dem Modernismus an.
43. Das gehört bereits zu den Kunstgriffen der Modernisten, um ihre
Ware an den Mann zu bringen. Sie lassen nichts unversucht, um die Zahl
ihrer Anhänger zu vermehren. An den Priesterseminarien und Universitäten
lauern sie auf Professoren, um sie dann bald in Lehrstühle des
Verderbens zu verkehren. In der Kirche tragen sie die Lehre in ihren
Predigten, vielleicht auch nur in versteckter Weise vor. In
Versammlungen sprechen sie freier. Bei sozialen Veranstaltungen flechten
sie ihre Lehren ein und preisen sie an. Unter eigenem oder fremdem
Namen lassen sie ihre Bücher, Zeitungen und Abhandlungen erscheinen. Ein
und derselbe Schriftsteller benutzt häufig verschiedene Namen, um
Unvorsichtige durch Vorspiegelung vieler Autoren zu täuschen. In ihrer
Aktivität, in Wort und Schrift, überall, entfalten sie eine wahrhaft
fieberhafte Tätigkeit. Was ist das Ergebnis? Bedauerlicherweise ist eine
große Anzahl junger Leute, welche die größten Hoffnungen erweckten und
für das Wohl der Kirche so viel Gutes tun könnten, vom rechten Weg
abgewichen. Auch diese Tatsache berührt Uns schmerzlich. Viele, die zwar
nicht so weit gehen, wurden doch von der schlechten Atmosphäre
angesteckt und haben es sich angewöhnt, mit einer Ungebundenheit zu
denken, zu reden und zu schreiben, die für einen Katholiken unpassend
ist. Sie finden sich unter den Laien, aber auch ebenso im Klerus. Sogar
in religiösen Orden, wo man es am wenigsten erwarten sollte, fehlen sie
nicht. Man behandelt die biblischen Fragen nach den Regeln des
Modernismus. Schreibt man Geschichte, so stellt man, unter dem Schein
der Objektivität, mit sichtlichem Vergnügen alles ans Licht, was für die
Kirche einen Makel bedeuten könnte. Fromme Volksüberlieferungen
versucht man nach einem vorgefaßten Urteil mit aller Entschiedenheit
herabzusetzen. Altehrwürdige Reliquien gibt man der Verachtung preis.
Die Eitelkeit verlangt, in der Welt von sich reden zu machen. Man ist
der Meinung, dies nicht erreichen zu können, wenn man nur das
wiederholt, was schon immer und allgemein gesagt wurde. Vielleicht ist
man dabei sogar überzeugt, man würde Gott und der Kirche dadurch einen
Dienst erweisen. Tatsächlich aber wird dadurch schwer gefehlt, nicht nur
allein durch die Arbeiten selbst, sondern noch mehr durch die
Gesinnung, woraus diese entstehen. Die Modernisten gewinnen dadurch in
hohem Maße an Bedeutung.
44. Unser Vorgänger seligen Andenkens, Leo XIII., hat sich in Wort
und Tat besonders in der Bibelfrage mannhaft gegen diesen Strom grober
Irrtümer entgegengestellt, der insgeheim und offen einzudringen
versuchte. Wie wir jedoch erkennen können, lassen sich die Modernisten
nicht so leicht durch eine solche Abwehr abschrecken. Gegen die Worte
des Papstes haben sie zwar die größte Ehrfurcht und Unterwürfigkeit zur
Schau getragen, diese dabei jedoch zu ihren Gunsten verdreht und sein
Einschreiten auf irgendwelche anderen Leute bezogen. Das Übel ist somit
von Tag zu Tag schlimmer geworden. Deshalb haben Wir beschlossen,
ehrwürdige Brüder, nicht länger zuzusehen, sondern energischere
Maßnahmen zu ergreifen. Euch aber bitten und beschwören Wir, es in
dieser Angelegenheit nicht an äußerster Wachsamkeit, Eifer und
Festigkeit fehlen zu lassen. Was Wir von Euch wünschen und erwarten, das
wünschen und erwarten Wir ebenso von den übrigen Seelsorgern, von den
Erziehern und Lehrern des jungen Klerus, und in besonderer Weise von den
Generaloberen der religiösen Orden.
I
45. Was zunächst die Studien angeht, so wollen und verordnen Wir in
aller Form, daß die scholastische Philosophie zur Grundlage der
kirchlichen Studien gemacht wird. Wenn sich allerdings etwas bei den
Scholastikern findet, das allzu spitzfindig ausgeklügelt oder ohne die
nötige Überlegung vorgebracht wird, oder etwas, das mit den
sichergestellten Ergebnissen einer späteren Zeit nicht übereinstimmt,
oder schließlich etwas, das in irgendeiner Weise unwahrscheinlich ist,
so liegt es Uns durchaus fern, das unserer Zeit zur Nachahmung zu
empfehlen20.
Die Hauptsache ist, wenn Wir die Beibehaltung der scholastischen
Philosophie vorschreiben, so ist damit vor allem die Lehre des hl.
Thomas von Aquin gemeint. Was hierüber von Unserem Vorgänger bestimmt
worden ist, soll – so verfügen Wir – in Kraft bleiben. Soweit nötig
erneuern und bestätigen Wir dies und geben den Auftrag, daß dies von
allen genau beobachtet wird. Es ist Aufgabe der Bischöfe, zu
veranlassen, falls dies irgendwo in den Seminarien vernachlässigt werden
sollte, dies in Zukunft dringend zu befolgen und darauf zu bestehen.
Dieselbe Vorschrift haben die Oberen der religiösen Orden zu beachten.
Die Lehrer sollen darauf achten, daß man besonders in metaphysischen
Fragen nie ohne großen Schaden vom Aquinaten, der Lehre des Thomas von
Aquin, abweicht.
46. Auf dieser philosophischen Grundlage soll mit größter Sorgfalt
das Gebäude der Theologie errichtet werden. Fördert das Studium der
Theologie, ehrwürdige Brüder, soweit es in Eurer Macht steht, damit die
Kleriker aus dem Seminar die größte Hochachtung und Liebe dafür
mitnehmen und stets ihre Freude daran finden. Jeder weiß, daß unter
allen diesen vielen Disziplinen, welche sich dem Wahrheitsdurst des
Geistes bieten, der heiligen Theologie der erste Platz gebührt, so daß
schon ein alter weiser Spruch besagt, es liegt an den übrigen
Wissenschaften und Künsten, ihr zur Hand zu sein und ihr gleichsam die
Dienste einer Magd zu leisten21.
Hier fügen Wir hinzu, daß sich auch diejenigen Unsere Anerkennung
verdienen, welche in aller Ehrfurcht gegenüber der Tradition der
heiligen Väter und dem kirchlichen Lehramt mit dem richtigen Takt und
nach katholischen Normen, was nicht in gleicher Weise geschieht, die
positive Theologie durch die Ergebnisse einer Geschichte zu fördern
versuchen, die wirklich diesen Namen verdient. Gewiß verlangt die
positive Theologie mehr Beachtung als bisher. Darüber soll jedoch die
Scholastik keinen Schaden leiden. Es sind daher alle zu tadeln, welche
die positive Theologie so über alles erheben, daß daneben die
scholastische Theologie gering geschätzt wird. Dadurch fördern sie die
Sache der Modernisten.
47. Bezüglich der profanen Disziplinen ist es ausreichend, an das zu
erinnern, was Unser Vorgänger hierzu weise bemerkt hat: Betreibt die
Naturwissenschaften mit allem Eifer. Die glänzenden Entdeckungen und
ihre kühnen Anwendungen, welche unsere Zeit auf diesem Gebiet
aufzuweisen hat, ernten mit Recht die Bewunderung unserer Zeitgenossen
und werden stets das höchste Lob der Nachwelt genießen22.
Das soll jedoch ohne Benachteiligung der kirchlichen Studien geschehen,
so wie dies Unser Vorgänger mit nachdrücklichen Worten betont, wenn er
fortfährt: Wenn man genauer hinsieht, wird man die hauptsächliche
Ursache der Irrtümer darin finden, daß bei dem eifrigen Betreiben der
Naturwissenschaften in unseren Tagen die ernsteren und tieferen Studien
entsprechend abgenommen haben. Einige Disziplinen sind fast in
Vergessenheit geraten, andere finden nur geringe und ungenügende Pflege.
Sie haben leider ihren alten herrlichen Glanz verloren und sind durch
falsche Lehren und abenteuerliche Meinungen entstellt. Nach dieser Norm,
so bestimmen Wir, sollen die naturwissenschaftlichen Studien in den
Priesterseminarien betrieben werden.
II
48. Alle diese Verordnungen, die durch Uns oder durch Unseren
Vorgänger erlassen wurden, sind zu bedenken, wenn es sich um die Auswahl
der Leiter und Lehrer für die Seminarie und katholischen Universitäten
handelt. Wer in irgendeiner Form vom Modernismus angesteckt ist, muß
unbedingt von der Leitung und vom Lehramt ferngehalten, oder, wenn er
bereits angestellt ist, entfernt werden. Diese Verordnung ist auch
gültig, wer heimlich oder offen dem Modernismus zugetan ist, entweder
die Modernisten lobt, oder ihre Fehltritte entschuldigt, die Scholastik,
die heiligen Väter und das kirchliche Lehramt bemängelt, oder gegenüber
einem Vertreter der kirchlichen Autorität in irgendeiner Weise den
Gehorsam verweigert. Ferner, wer in der Geschichte, in der Archäologie
oder in der Exegese Neuerungen sucht. Darüber hinaus, wer die
kirchlichen Disziplinen vernachlässigt oder diesen die profanen
vorzieht. In diesem Punkt, ehrwürdige Brüder, besonders in der Auswahl
der Lehrer, sind Eure Wachsamkeit und Eure Festigkeit von größter
Bedeutung. Nach dem Beispiel der Lehrer richten sich meistens die
Schüler. Darum handelt klug in diesem Punkt und im vollen Bewußtstein
Eurer Pflicht, aber auch ohne Nachsicht.
49. Die gleiche Wachsamkeit und Strenge muß bei der Prüfung und bei
der Auswahl der Kandidaten für die heiligen Weihen beachtet werden. Die
Neuerungssucht muß fernab des Priestertums stehen. Gott lehnt die
Stolzen und Trotzigen ab! Keiner soll in Zukunft den Doktorgrad in der
Theologie und im kanonischen Recht erhalten, der nicht vorher den
regelmäßigen Kursus in der scholastischen Philosophie absolviert hat.
Wird er trotzdem verliehen, so soll er null und nichtig sein. Was die
heilige Kongregation für die Bischöfe und Regularen im Jahr 1896 den
Welt- und Ordensgeistlichen Italiens über den Besuch der Universitäten
vorgeschrieben hat, das soll, so verfügen Wir, in Zukunft für alle
Nationen Gültigkeit haben. Kleriker und Priester, die einer katholischen
Universität oder einem Katholischen Institut angehören, sollen Fächer,
für welche sie diese Professuren besitzen, nicht an der weltlichen
Universität studieren. Wenn dies bisher irgendwo erlaubt wurde, so
bestimmen Wir, daß dies in Zukunft nicht mehr zu geschehen hat.
Bischöfen, denen die Leitung solcher Universitäten oder Institute
unterstehen, sollen mit aller Gewissenhaftigkeit dafür Sorge tragen, daß
Unsere hier vorgeschriebenen Verordnungen beständig eingehalten werden.
III
50. Ebenso untersteht es der Pflicht der Bischöfe, über
modernistische Lektüren oder über Schriften, die vom Modernismus
angesteckt sind oder denselben fördern, ein Verbot zu verhängen, falls
sie erschienen sind, und ihre Veröffentlichung von vorneherein zu
verhindern. Ferner ist es untersagt, derartige Bücher, Zeitungen und
Zeitschriften weder den Seminaristen noch den Hörern an den
Universitäten zu erlauben. Diese sind nicht weniger schädlich als
unsittliche Schriften; sie sind sogar noch weitaus schlimmer, da sie die
Wurzel des christlichen Lebens vergiften. Ebenso darf das Urteil über
Schriften von Katholiken nicht anders lauten, die zwar ansonsten brave
Leute sind, jedoch ohne Kenntnis der Theologie und angesteckt von der
modernen Philosophie, die letztere mit dem Glauben vereinigen, und nach
ihrer Meinung versuchen, dies für den Glauben nutzbringend zu machen.
Gerade wegen dem Namen und dem Ansehen der Verfasser liest man sie
unbedenklich. Daher ist die Gefahr um so größer, allmählich in den
Modernismus zu geraten.
51. Um Euch, ehrwürdige Brüder, in einer so wichtigen Sache eine
allgemeine Regel zu geben, versucht mit Entschiedenheit, alle
gefährlichen Bücher aus Euren Diözesen fernzuhalten, selbst durch
feierliches Verbot. Der Heilige Stuhl scheut keine Mühe, solche
Schriften zu verbannen. Sie sind allerdings so zahlreich geworden, daß
es die Kräfte übersteigt, alle zu zensieren. Die Medizin kommt manchmal
zu spät, weil das Übel mit der Zeit übermächtig geworden ist. Darum
wollen Wir, daß die Bischöfe ohne Furcht, ohne Klugheit des Fleisches
und ohne Rücksicht auf das Geschrei schlechter Menschen, milde aber fest
ihres Amtes walten, eingedenk dessen, was Leo XIII. in der
apostolischen Konstitution Officiorum vorgeschrieben hat: Die Bischöfe
sollen, auch als Delegaten des Apostolischen Stuhles, schädliche Bücher
und Schriften, die in ihrer Diözese veröffentlicht oder verbreitet
werden, verbieten und aus den Händen der Gläubigen entfernen. Diese
Worte verleihen ein Recht, bedingen aber auch einer Pflicht. Niemand
soll glauben, diese Amtspflicht erfüllt zu haben, wenn er das eine oder
andere Buch bei Uns anzeigt, während er so manche andere Bücher oder
Schriften frei zirkulieren läßt. Laßt Euch in keiner Weise beirren,
ehrwürdige Brüder, wenn der Verfasser vielleicht an einer anderen Stelle
sein Imprimatur erhalten hat. Vielleicht ist diese gefälscht,
vielleicht ist dies leichtfertig oder aus allzu großer Güte in blindem
Vertrauen dem Verfasser gegeben worden. Zuweilen könnte letzteres in
religiösen Orden geschehen. Hinzu kommt, daß Bücher, die an einem
bestimmten Ort harmlos sein mögen, an einem anderen Ort wegen besonderer
Umstände schaden können. Auch eine gleiche Speise ist nicht allen
zuträglich. Wenn also ein Bischof glaubt, nachdem er sich das Urteil
vernünftiger Männer eingeholt hat, ein solches Buch für seine Diözese zu
verbieten, so geben Wir zu diesem Schritt nicht nur alle Vollmacht,
sondern legen ihm dazu auch die Pflicht auf. Der Takt muß dabei
selbstverständlich gewahrt bleiben. Wenn es ausreichend ist, beschränkt
man dieses Verbot auf den Klerus. Jedoch auch in diesem Fall bleibt die
Pflicht der katholischen Buchhändler bestehen, vom Bischof verbotene
Bücher nicht zu führen. Da die Rede gerade darauf gekommen ist – die
Bischöfe sollen darüber wachen, daß die Buchhändler nicht aus
Gewinnsucht schlechte Ware vertreiben. In manchen Katalogen sind
modernistische Bücher reichlich vertreten und werden mit viel Reklame
angezeigt. Die Bischöfe sollen sie warnen. Sollten sie nicht gehorchen,
sind die Bischöfe aufgefordert, ihnen unbedenklich den Titel
katholischer Buchhändler abzusprechen, ebenso und noch mehr den Titel
bischöflicher Buchhändler. Diejenigen, die einen päpstlichen Titel
führen, sollen sofort dem Apostolischen Stuhl angezeigt werden. Allen
bringen Wir in Erinnerung, was Art. 26 der erwähnten apostolischen
Konstitution Officiorum besagt: Alle, die eine päpstliche Vollmacht
erhalten haben, verbotene Bücher zu lesen und zu besitzen, dürfen
deshalb noch lange nicht alle Bücher und Zeitungen lesen oder besitzen,
die vom Diözesanbischof verboten wurden, es sei denn, daß ihnen in der
päpstlichen Vollmacht ausdrücklich die Erlaubnis erteilt wurde, Bücher
zu lesen und zu besitzen, die von irgendjemandem verboten sind.
IV
52. Aber auch das ist noch nicht ausreichend, die Lektüre und den
Verkauf schlechter Bücher zu verhüten. Darüber hinaus ist es notwendig,
auch ihre Veröffentlichung zu verhindern. Aus diesem Grund sollen die
Bischöfe in Erteilung der Druckerlaubnis äußerste Strenge walten lassen.
Da es nach der Konstitution Officiorum sehr viel zur Veröffentlichung
der bischöflichen Erlaubnis bedarf, und da der Bischof nicht alles
selbst einsehen kann, wurden für diese Revision in manchen Diözesen
amtliche Zensoren in ausreichender Anzahl eingesetzt. Diese Einrichtung
findet Unseren vollen Beifall. Wir wünschen daher nicht nur, sondern
verordnen förmlich, daß sie auf alle Diözesen ausgedehnt werden. An
allen bischöflichen Kurien sollen also amtliche Zensoren bestimmt sein,
deren Aufgabe die Durchsicht der Schriften ist, welche zur
Veröffentlichung gelangen sollen. Dazu sind aus dem Welt- und
Ordensklerus erprobte, gelehrsame und kluge Männer im passenden Alter
auszuwählen, die bei der Billigung und Verurteilung von Lehrmeinungen
einen sicheren Mittelweg einzuhalten haben. Die Schriften, welche nach
Art. 41 und 42 der oben erwähnten Konstitution eine Druckerlaubnis
benötigen, sollen ihnen zur Kenntnisnahme vorgelegt werden. Der Zensor
soll sein Urteil schriftlich abgeben. Ist dieses Urteil günstig, so
erteilt der Bischof seine Erlaubnis zur Veröffentlichung durch das Wort
Imprimatur. Dem soll jedoch die Formel Nihil obstat mit der Unterschrift
des Zensors vorausgehen. An der römischen Kurie müssen, wie an anderen
Orten, amtliche Zensoren bestimmt werden. Der Magister Sacri Palatii
ernennt sie nach Rücksprache mit dem Kardinalvikar und unter Zustimmung
und Gutheißung des Papstes. Auch für die Revision der einzelnen Werke
hat er den Zensor zu bestimmen. Die Druckerlaubnis wird ebenfalls vom
Magister Sacri Palatii und ebenso vom Kardinalvikar oder dem
stellvertretenden Bischof erteilt. Wie bereits erwähnt steht dem die
Approbationsformel des Zensors mit seiner Namensunterschrift voran. Nur
in außerordentlichen und äußerst seltenen Fällen darf nach dem Urteil
des Bischofs die Erwähnung des Zensors unterbleiben. Der Verfasser darf
niemals den Namen seines Zensors erfahren, bevor dieser ein günstiges
Urteil abgegeben hat, damit der Zensor während der Revision nicht
belästigt, oder, falls er die Veröffentlichung nicht gestattet, belangt
wird. Zensoren sollen niemals aus religiösen Orden genommen werden, ohne
vorher im geheimen den Provinzial- oder Generaloberen in Rom zu
befragen. Dieser muß auf Amt und Gewissen sein Zeugnis über Tugend,
Wissen und Reinheit der Lehre des Kandidaten ablegen. Die Ordensoberen
mahnen Wir an die ernste Pflicht, niemals etwas von ihren Untergebenen
im Druck erscheinen zu lassen, ohne daß vorher von ihnen und vom Bischof
die Erlaubnis eingeholt worden ist. Schließlich bestimmen und erklären
Wir, daß der Titel Zensor, den jemand führt, keine weitere Bedeutung
hat, und daß derselbe nie zur Bestätigung der Privatansichten des
Betreffenden angeführt werden kann.
53. Nach diesen allgemeinen Bestimmungen schärfen Wir namentlich die
gewissenhafte Beobachtung dessen ein, was in Art. 42 der Konstitution
Officiorum mit folgenden Worten ausgesagt wird: Weltgeistlichen ist es
verboten, ohne vorherige Erlaubnis ihres Ordinariats, die Redaktion von
Zeitungen oder Zeitschriften zu übernehmen. Wenn jemand eine solche
Erlaubnis mißbraucht, soll sie ihm nach vorhergegangener Verwarnung
entzogen werden. Bei Priestern, die nach dem landläufigen Ausdruck
Korrespondenten oder Mitarbeiter sind, kommt es häufiger vor, daß diese
in Zeitungen oder Zeitschriften modernistisch angehauchte Artikel
veröffentlichen. Die Bischöfe sollen bei diesen darauf achten, daß sie
sich im Falle eines Mißgriffs nichts vergeben und die Betreffenden
mahnen oder ihnen das Schreiben untersagen. Die gleiche eindringliche
Mahnung richten Wir an die Ordensoberen. Wenn sie es zu leicht nehmen,
haben die Bischöfe im Auftrag des Papstes einzuschreiten. Zeitungen und
Zeitschriften, welche von Katholiken veröffentlicht werden, sollen,
soweit möglich, ihren bestimmten Zensor erhalten. Dieser hat die
einzelnen Blätter oder Hefte nach ihrem Erscheinen zu gegebener Zeit
durchzulesen. Wenn sich darin gefährliche Äußerungen finden, ist es ihre
Aufgabe, eine baldmögliche Richtigstellung zu fordern. Dieselbe
Vollmacht haben die Bischöfe, auch wenn der Zensor allenfalls
einverstanden gewesen sein sollte.
V
54. Kongresse und öffentliche Versammlungen wurden bereits oben als
Gelegenheiten erwähnt, bei denen die Modernisten versuchen, ihre
Ansichten frei zu vertreten und zu verbreiten. Die Bischöfe dürfen in
Zukunft Priesterversammlungen nur äußerst selten dulden. Erlauben sie
dieselben, soll dies nur unter der Bedingung geschehen, daß nichts
verhandelt wird, was vor die Bischöfe und den Apostolischen Stuhl
gehört. Es dürfen keine Anträge und Gesuche gestellt werden, die eine
Usurpation kirchlicher Autorität bedeuten. Alles, was nach Modernismus,
Presbyterianismus oder Laizismus aussieht, muß von der Diskussion
ausgeschlossen werden. Für solche Versammlungen ist nur im einzelnen
Fall, für eine passende Zeit und in schriftlicher Form die Erlaubnis zu
gewähren. Geistliche aus einer anderen Diözese dürfen nur dann
beiwohnen, wenn sie ein Empfehlungsschreiben des Bischofs vorweisen
können. Alle Priester aber mögen die ernste Mahnung Leos XIII. wohl im
Gedächtnis behalten: Die Autorität ihrer Bischöfe soll den Priestern
heilig sein. Sie sollen überzeugt sein, daß das priesterliche Amt nur
dann, wenn es unter der Leitung der Bischöfe ausgeübt wird, heilig,
nutzbringend und ehrenvoll ist23.
VI
55. Doch was nützen alle Unsere Vorschriften und Verordnungen,
ehrwürdige Brüder, wenn sie nicht pünktlich und treu ausgeführt werden?
Damit Unseren Wünschen ein glücklicher Erfolg entspricht, haben Wir
beschlossen, was die Bischöfe von Umbrien24
vor Jahren für ihre Diözesen weise angeordnet haben, auf alle Diözesen
auszudehnen: Um die bereits verbreiteten Irrtümer auszurotten, und um zu
verhüten, daß sie weitere Verbreitung finden, oder daß gottlose Lehrer
die schlimmen Folgen, die aus deren Verbreitung entsprungen sind, weiter
aufrechterhalten, so beschließt diese heilige Versammlung nach dem
Vorbild des hl. Karl Borromäus, daß in jeder Diözese aus bewährten
Mitgliedern des Welt- und Ordensklerus ein Rat eingesetzt wird. Dieser
soll darüber wachen, ob und mit welchen Mitteln die neuen Irrtümer
weiterschleichen oder verbreitet werden. Sie werden den Bischof davon in
Kenntnis setzen, damit nach gemeinsamer Überlegung Maßnahmen ergriffen
werden, um das Übel gleich im Keim zu ersticken. Ansonsten würde das
Verderben der Seelen immer weiter um sich greifen, oder – was noch
schlimmer wäre – von Tag zu Tag wachsen und sich festigen. Daher
beschließen Wir, daß ein solcher Rat, den Wir die Aufsichtsbehörde
nennen, so bald als möglich in jeder Diözese eingerichtet wird. Die
Mitglieder dieser Aufsichtsbehörde werden etwa in der Weise bestimmt,
wie Wir es oben für die Zensoren angeordnet haben. In jedem zweiten
Monat sollen sie an einem festgelegten Tag beim Bischof zusammenkommen.
Über ihre Verhandlungen und Beschlüsse sind sie zum Stillschweigen
verpflichtet. Von Amtswegen unterliegen ihnen folgende Obliegenheiten:
Nach Anzeichen und Spuren des Modernismus sowohl in Büchern, als auch in
Lehrvorträgen eifrig zu forschen. Zum Schutz des Klerus und der Jugend
ist ihnen verordnet, mit Klugheit, dennoch schnell handelnd und
tatkräftig ihre Verordnungen zu treffen. Neuerungen in der Terminologie
sollen von ihnen nicht zugelassen werden. Sie sollen sich an die Mahnung
Leos XIII. erinnern25:
An Schriften von Katholiken kann nicht gebilligt werden, wenn sie eine
Redeweise gebrauchen, die durch ihre verkehrte Neuerungssucht den
Anschein erweckt, als würde man sich über die Frömmigkeit der Gläubigen
lustig machen. Die von einer Neuordnung des christlichen Lebens
sprechen, von neuen Gesetzen der Kirche, neuen Bedürfnissen des modernen
Menschen, einem neuen sozialen Beruf des Klerus, einer neuen
christlichen Zivilisation und dergleichen dürfen sie Derartiges weder in
Büchern noch in Vorlesungen dulden. Bücher, die fromme
Lokalüberlieferungen oder heilige Reliquien enthalten, sollen sie nicht
übersehen. Sie können nicht zugeben, daß solche Fragen in Zeitungen oder
Zeitschriften, welche der Erbauung dienen, behandelt werden, vielleicht
sogar mit Ausdrücken versehen sind, die von Spott und Verachtung
zeugen, oder mit kategorischer Sicherheit, besonders wenn, wie meistens,
nur Wahrscheinlichkeiten oder Vorurteile zugrunde liegen.
56. Bezüglich der heiligen Reliquien halte man sich an folgende
Vorgehensweise: Wenn die Bischöfe, die dafür alleine zuständig sind,
sicher wissen, daß eine Reliquie unecht ist, ist es ihre Aufgabe,
dieselbe der Verehrung der Gläubigen zu entziehen. Sollten Zeugnisse
einer Reliquie vielleicht bei bürgerlichen Wirren oder durch einen
sonstigen Zufall verloren gegangen sein, darf sie nicht öffentlich
ausgestellt werden, bevor sie vom Bischof in aller Form verifiziert ist.
Ein Präskriptionsbeweis oder eine begründete Präsumption soll nur dann
Gültigkeit haben, wenn ein hohes Alter der Verehrung für sie spricht. So
will es das Dekret der heiligen Kongregation für Ablässe und Reliquien
vom Jahre 1896: Die alten Reliquien sind bei ihrer bisherigen Verehrung
so zu belassen, es sei denn, daß in einem besonderen Fall sichere
Beweise für ihre Fälschung oder ihre Unechtheit vorhanden sind. Stehen
jedoch fromme Überlieferungen zur Beurteilung an, so ist zu beachten:
Die Kirche ist in diesem Stück sehr vorsichtig. Nur mit großem Bedacht
und unter Anführung der von Urban VIII. vorgeschriebenen Erklärung sind
solche Überlieferungen und Schriften zu behandeln. Auch wenn dies in
ausreichender Weise geschehen ist, tritt sie doch nicht für die Wahrheit
der Tatsache ein, sondern erlaubt nur, daran zu glauben, wo menschliche
Beweise für die Glaubwürdigkeit sprechen. Vor dreißig Jahren hat die
heilige Ritenkongregation darüber bestimmt26:
Solche Erscheinungen und Offenbarungen sind vom Apostolischen Stuhl
weder bestätigt noch verurteilt, sondern es wurde nur erlaubt, sie mit
menschlichem Glauben nach der Überlieferung fromm anzunehmen, welche für
sie sprechen und die durch entsprechende Zeugnisse und Monumente
bekräftigt werden. Wer daran festhält, braucht nichts zu fürchten. Die
Verehrung einer Erscheinung hat, sofern sie auf die Tatsache selbst
zurückgeht und relativ ist, immer die Bedingung zur Voraussetzung, daß
die Tatsache wahr ist. Soweit sie jedoch absolut ist, beruht sie stets
auf der Wahrheit, denn als solche richtet sie sich an die Person der
Heiligen selbst, die man verehrt. Dasselbe ist von den Reliquien zu
sagen. Schließlich empfehlen wir noch der Aufsichtsbehörde, daß sie auf
soziale Veranstaltungen und ebenso auf Schriften über die soziale Frage
stets wachsam ihr Augenmerk lenkt, damit sich kein Modernismus dahinter
verstecken kann, und die päpstlichen Vorschriften dabei beachtet werden.
VII
57. Damit diese Unsere Verordnungen nicht in Vergessenheit geraten,
wollen und verfügen Wir, daß die Bischöfe der einzelnen Diözesen ein
Jahr nach Veröffentlichung des gegenwärtigen Schreibens, und später alle
drei Jahre, dem Apostolischen Stuhl gewissenhaft und unter Eid Bericht
über die in diesem Rundschreiben getroffenen Anordnungen erstatten,
ferner über die Lehren, die beim Klerus Eingang gefunden haben,
besonders in den Seminarien und sonstigen katholischen Instituten, auch
in denen, die nicht der Leitung des Ordinariats unterstehen. Die
gleichen Vorschriften erhalten von Uns die Generaloberen der religiösen
Orden zur Weitergabe an ihre Untergebenen.
58. Dies glauben Wir, ehrwürdige Brüder, Euch zum Heil aller
Gläubigen schreiben zu müssen. Die Feinde der Kirche werden es gewiß
benutzen, um die alten Verleumdungen wieder aufleben zu lassen, daß Wir
Gegner des Fortschritts, der Bildung und Zivilisation sind. Um diesen
Anklagen, gegen welche die Geschichte der christlichen Religion einen
fortlaufenden Gegenbeweis darstellt, eine neue Antwort entgegenzuhalten,
ist es Unsere Absicht, mit allen Mitteln ein eigenes Institut zu
fördern, an welchem Mitglieder aller Katholiken von wissenschaftlichem
Ruf am Fortschritt jeder Art von wissenschaftlichen und gelehrten
Studien arbeiten sollen, im Licht der katholischen Wahrheit und unter
ihrer Führung. Gebe Gott, daß Wir diesen Platz glücklich durchführen
können. Mögen alle, die mit der Kirche Christi in aufrichtiger Liebe
verbunden sind, dazu ihren Teil beitragen! Doch davon berichten Wir ein
anderes Mal. Unterdessen erflehen Wir für Euch, ehrwürdige Brüder, auf
deren Tatkraft und Eifer Wir voll vertrauen, inständig die Fülle des
Lichtes, damit Ihr angesichts der großen Gefahr, welche von allen Seiten
den Seelen durch die überall herumschleichenden Irrtümer droht, den
richtigen Weg erkennt, und mit aller Kraft und Festigkeit Eure Pflicht
erfüllt. Möge Jesus Christus, der Urheber und Vollender unseres
Glaubens, Euch mit seiner Macht zur Seite stehen. Möge Euch die
unbefleckte Jungfrau, die Vernichterin aller Häresien, mit ihrer
Fürbitte und ihrer Hilfe beistehen. Als Unterpfand Unserer Liebe und des
göttlichen Trostes in Widerwärtigkeiten verleihen Wir Euch, Eurem
Klerus und Eurem Volk von ganzem Herzen den Apostolischen Segen.
Gegeben zu Rom bei Sankt Peter am 8. September des Jahres 1907, im fünften Jahr Unseres Pontifikats.
Papst Pius X.
1 Apg 20,30.
2 Tit 1,10.
3 2 Tim 3,13.
4 I. Vatikanum, De revelatione, can. 1.
5 I. Vatikanum, De revelatione, can. 2.
6 I. Vatikanum, De fide, can. 3.
7 I. Vatikanum, De revelatione, can. 3.
8 Gregor XVI., Enzyklika Singulari Nos, 25. Juni 1834.
9 Pius IX., Breve an den Fürstbischof von Breslau vom 15. Juni 1857.
10 Gregor IX., Brief an die Prof. der Theol. zu Paris vom 7. Juli 1228.
11 Pius IX., Enzyklika Qui pluribus, 9. November 1846.
12 Pius IX., Syllabus zur Enzyklika Quanta curavom 8. Dezember 1864, Prop. 5.
13 I. Vatikanum, Dei Filius, cap. IV.
14 Röm 1, 21-22.
15 I. Vatikanum, De revelatione, can. 2.
16 Augustinus, Epist. 28.
17 Gregor XVI., Enzyklika Singulari Nos, 25. Juni 1834.
18 Pius IX., Syllabus zur Enzyklika Quanta curavom 8. Dezember 1864, Prop. 13.
19 Leo XIII., Motu proprio Ut mysticam, 14. März 1891.
20 Leo XIII., Enzyklika Æterni Patris, 4. August 1879.
21 Leo XIII., Litt. Ap. In magna, 10. Dezember 1889.
22 Leo XIII., Ansprache vom 7. März 1880.
23 Leo XIII., Enzyklika Nobilissima Gallorum, 10. Februar 1884.
24 Act. Conses. Epp. Umbriae, novembri 1849, tit. 2, art 6.
25 Instruct. S. C. NN. EE. EE. vom 27. Januar 1902.
26 Dekr. vom 2. Mai 1877.
2 Tit 1,10.
3 2 Tim 3,13.
4 I. Vatikanum, De revelatione, can. 1.
5 I. Vatikanum, De revelatione, can. 2.
6 I. Vatikanum, De fide, can. 3.
7 I. Vatikanum, De revelatione, can. 3.
8 Gregor XVI., Enzyklika Singulari Nos, 25. Juni 1834.
9 Pius IX., Breve an den Fürstbischof von Breslau vom 15. Juni 1857.
10 Gregor IX., Brief an die Prof. der Theol. zu Paris vom 7. Juli 1228.
11 Pius IX., Enzyklika Qui pluribus, 9. November 1846.
12 Pius IX., Syllabus zur Enzyklika Quanta curavom 8. Dezember 1864, Prop. 5.
13 I. Vatikanum, Dei Filius, cap. IV.
14 Röm 1, 21-22.
15 I. Vatikanum, De revelatione, can. 2.
16 Augustinus, Epist. 28.
17 Gregor XVI., Enzyklika Singulari Nos, 25. Juni 1834.
18 Pius IX., Syllabus zur Enzyklika Quanta curavom 8. Dezember 1864, Prop. 13.
19 Leo XIII., Motu proprio Ut mysticam, 14. März 1891.
20 Leo XIII., Enzyklika Æterni Patris, 4. August 1879.
21 Leo XIII., Litt. Ap. In magna, 10. Dezember 1889.
22 Leo XIII., Ansprache vom 7. März 1880.
23 Leo XIII., Enzyklika Nobilissima Gallorum, 10. Februar 1884.
24 Act. Conses. Epp. Umbriae, novembri 1849, tit. 2, art 6.
25 Instruct. S. C. NN. EE. EE. vom 27. Januar 1902.
26 Dekr. vom 2. Mai 1877.
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