Donnerstag, 3. Oktober 2013

Predigt vom hl. Thomas v. Aquin - Vierter Sonntag nach Epiphanie

Vierter Sonntag nach Epiphanie 


 (Aus dem Buch Des heiligen Thomas von Aquin, des englischen Lehrers, Predigten auf das ganze Kirchenjahr)

 Erste Rede 


Liebe deinen Nächsten wie dich selbst. Röm. 13, 9.

Quelle: Missale romanum ex decreto sacrosancti Concilii tridentini 
restitutum: s. Pii v. pontificis maximi jussu editum, 
Clementis VIII. et Urbani VIII. auctoritate recognitum
Mit diesen Worten will der Herr viererlei; zuerst befiehlt er die Liebe des Nächsten; zweitens zeigt er was man lieben soll; drittens gibt er den Grund; und viertens den Grad der Liebe an. Das erste geschieht mit dem Worter: Liebe; das zweite mit dem: den Nächsten; das dritte mit dem: deinen; und das vierte mit den Worten: wie dich selbst. In Bezug auf das erste soll man wissen, daß uns vorzüglich drei Gründe zur Liebe bewegen sollen. Zuerst die Nothwendigkeit, zweitens der Nutzen, drittens die Unentschuldbarkeit. Die Nothwendigkeit besteht darin, daß im ewigen Gesetze festgesetzt ist, daß der welcher nicht liebt, ewig bestraft werden soll. Denn der Apostel Johannes (1. Joh. 3.) sagt: "Wer nicht liebt, der bleibt im Tode." Der Nutzen besteht darin, daß in demselben Gesetze verordnet ist, daß der welcher das ewige Reich liebt, ein unschätzbares Gut gewinnt. Der Apostel sagt (1. Cor. 2.): "Kein Auge hat es gesehen, kein Ohr gehört, was Gott denen bereitet hat, die ihn lieben." Und der heilige Augustin sagt: "Was sollte nicht da, wo die Liebe ist, sein?" Die Unentschuldbarkeit liegt darin, daß dieses Gebot von Allen leicht erfüllt werden kann. Denn kein Armer, kein Reicher und Niemand, kann sich durch die Unmöglichkeit der Erfüllung dieses Gesetzes entschuldigen. Die heilige Schrift sagt (Deut. 30.): "Das Gebot das ich dir heute gebe ist nicht über dir."


 In Bezug auf das zweite, was hier angedeutet wird, muß der Mensch drei lieben: Gott, sich selbst und den Nächsten. Die Liebe Gottes wird in der Liebe des Nächsten, und die Liebe des Nächsten in der Selbstliebe inbegriffen. Die Liebe des Nächsten und seiner selbst wird mit den Worten befohlen: Liebe den Nächsten wie dich selbst. Denn der Apostel deutet an, daß der Mensch sich selbst lieben muß, was der Sünder nicht thut. Der Psalmist (10.) sagt: "Wer das Unrecht liebt, der haßt seine Seele." Zuerst müssen wir Gott an sich und über Alles lieben; zweitens uns; drittens den Nächsten und das ganze Gut des Menschen besteht in der Ordnung dieser Liebe, und das ganze Uebel in der Verkehrung dieser Liebe, wie der heilige Augustin sagt: "Die Sünde ist der Mangel der Gestalt, des Maaßes und der Ordnung," und das Hohelied (2.) sagt: "Er richtete nach mir die Liebe ein."

 In Bezug auf das dritte isi zu bemerken, daß uns dreierlei zur Liebe des Nächsten bewegen soll. Zuerst weil dieses der Schöpfer befiehlt, zweitens weil die Natur dazu räth, und drittens weil es die heilige Schrift befiehlt. In Bezug auf das erste sagt die heilige Schrift (Joh. 13.): "Ein neues Gebot gebe ich euch, daß ihr einander liebet." In Bezug auf das zweite lehrt die Natur, daß jedes Thier das sich Aehnliche liebt, und jeder Mensch seines Gleichen; es scheint also der Mensch, welcher nicht liebt, unter den Thieren zu stehen. In Bezug auf das dritte lehrt die Schrift, daß der Mensch seinen Bruder liebt; alle Menschen aber sind Brüder. "Haben wir nicht Alle einen Vater?" (Mal. 2.) Er wollte alle Menschen von einem Vater Adam abstammen lassen, damit sie sich wie Brüder liebten. Unter allen Menschen aber besteht, leibliche und geiftige Verbrüderung. "Denn wir sind alle Brüder in Christo," sagt irgendwo der Apostel.
In Bezug auf das vierte ist zu bemerken, daß die Schrift auf dreifache Weife befiehlt den Nächsten zu lieben. Zuerst, als Glied, zweitens wie der Mensch sich selbst liebt, drittens wie Christus uns liebte. Von der ersten Weise sagt der Apostel (Röm. 12.): "Wie wir in einem Leibe viele Glieder haben, alle Glieder aber nicht denselben Act haben, so sind wir Viele Eins in Christo. Von der zweiten Art spricht Christus (Matth. 22.): "Liebe deinen Nächsten wie dich selbst," von der dritten heißt es (Joh. 15.): "Dieß ist mein Gebot, daß ihr einander liebet, wie ich euch geliebt habe."