Dienstag, 22. Oktober 2013

Predigt vom hl. Thomas v. Aquin - Sonntag Quinquagesima

 (Aus dem Buch Des heiligen Thomas von Aquin, des englischen Lehrers, Predigten auf das ganze Kirchenjahr)

 Erste Rede 


Spräche ich die Sprachen der Menschen und der Engel, hätte aber die Liebe nicht, so bin ich nichts. 1. Cor. 13, 1.

 In dieser Epistel wird die Liebe eingeschärft und auf vielfache Weise empfohlen. Wir bemerken in Bezug auf die Liebe fünferlei. Zuerst ihren Werth; zweitens den Schaden, wenn sie fehlt; drittens den Nutzen, wenn sie vorhanden ist; viertens ihre Ewigkeit; fünftens ihre Würde. Das erste sagt das Wort Liebe, Charitas; denn gerade, weil diese Tugend Liebe, Charitas, heißt, wird sie als liebenswerth und kostbar gepriesen. Das zweite sagen die Worte: "Wie ein tönendes Erz;" das dritte diese: "Die Liebe ist gütig:" das vierte diese: "Die Liebe fehlt niemals;" das fünfte diese: "Größer aber als diese ist die Liebe."


 In Bezug auf das Erste ist zu bemerken, daß die Liebe eine theure und kostbare Sache aus vier Gründen heißt. Zuerst, weil sie nur Einer haben kann, und sie vom höchsten Gute gegeben wird. Daher sagt der Apostel (Röm. 5.): "Die Liebe Gottes ist in den Herzen ausgegossen durch den heiligen Geist, der euch gegeben ist." Zweitens, weil sie allein von den Guten besesen wird. Daher sagt der heilige Angustin: "Die Liebe ist eine eigene Quelle, an der der Fremdling keinen Antheil hat." Drittens, weil man mit diesem Gute alle Güter besitzt. Daher sagt der heilige Augustin: "Betrachte welches Gut die Liebe ist, wenn diese fehlt besitzt man das Uebrige umsonst, wenn sie aber Jemand hat, so besitzt er Alles." Viertens, weil der welcher sie hat, Gott sehr theuer ist; wegen der Liebe heißen wir Gott wohlgefällig. Und darum nennt der Herr Jene, welche die Liebe haben, seine Theuersten. "Esset, Freunde, und berauschet euch, Theuerste." (Hohel. 5.)

 In Bezug auf das Zweite ist zu bemerken, daß man, wenn man die Liebe nicht hat, einen dreifachen Schaden erleidet, wie der Apostel hier zeigt. Der erste besteht darin, daß das Gut der Natur verzehrt wird, was die Worte sagen: "Ich bin wie eine tönende Schelle." Denn die Schelle zehrt sich selbst durch das Schellen auf, und so geht auch die vernünftige Kreatur ohne Liebe an den Lastern zu Grunde. Der heilige Augustin sagt in der Stadt Gottes: "Wenn sie nicht von guter Natur wären, würden die Laster nicht schaden, denn was bringen sie ihnen für einen andern Schaden, als daß sie die Vollkommenheit, die Schönheit, das Heil und den Frieden rauben?" Zweitens, weil die Seele ohne Liebe von Gott getrennt stirbt. Es heißt: "Ich bin nichts," d. h. todt, oder von dem wahrhaften Sein getrennt, ohne welches der Mensch nichts ist. Der heilige Johannes (1. Joh. 3.) sagt: "Wer nicht liebt bleibt im Tode." Drittens weil jedes Werk ohne Liebe nutzlos ist, denn es heißt: "Wenn ich alle meine Schätze den Armen zur Speise gebe; wenn ich meinen Leib zum Verbrennen hingebe; aber die Liebe nicht habe, so nützt es mir nichts." Und der heilige Ambrosius sagt: "Wer die Liebe nicht hat, der verliert jedes Gut," was Gott von uns abwenden möge. Amen.